Die Hoehle der Traenen
allerersten Mal.
»Ich weiß nicht …« Erneut schaute sie hinauf, um dann wieder auf ihrem Schemel zusammenzusacken. »Oh. Es ist weg. Ich glaube, es mag nicht, wenn man über es redet.«
»Aber …«
»Es ist wunderschön«, sagte sie erwartungsvoll. »Es ist ganz wunderschön. Wie … Freude, wenn die eine Form hätte.«
»Aber welche Form?«, fragte ich, ein wenig lauter, nun meinerseits frustriert. Sie schien gekränkt.
»Ich kann es nicht sagen. Kann es nicht, Mann, und werde es nicht. Mir fehlen die Worte.«
Danach wollte sie nicht mehr darüber sprechen, aber was immer das Ding war, es kam immer häufiger. Zuerst bemerkten es die Kinder, danach die Dörfler.
Die kleinen waren davon überzeugt, es wäre ein Wunschgeist,
wie jene in ihren Geschichten. Die älteren machten sich Sorgen, aber keinem Kind gefällt die Vorstellung, dass seine Mutter verrückt wird, sodass sie es nicht laut aussprachen.
Wyst und ich beteten am schwarzen Felsaltar, aber die Götter haben noch nie zu jemandem in unserer Familie gesprochen, und sie taten es auch jetzt nicht. Als die Dorfbewohner anfingen, über Wirrheit zu munkeln, beschloss ich, einen Steinedeuter aufzusuchen.
Eaba war unbeschwert. »Das ist wie ein Urlaub«, kicherte sie, wie sie es getan hatte, als wir einander den Hof machten, hakte sich bei mir ein und kuschelte sich an mich. Und plötzlich war es ein schöner Tag, auch wenn die Sorge um sie an mir nagte.
Während des gesamten Wegs wandte sie nicht das Gesicht von mir ab, und erst jetzt ging mir auf, was mir an diesem Etwas am wenigsten gefiel, nämlich wie Eabas Gesicht sich immer erhellte, wenn sie es erblickte. Es war genau die Art, wie sie strahlte, wenn sie mich oder die Babys anschaute. Es war eine Art von Liebe, die sie empfand, nicht bloß Freude, und als ich das erkannte, hasste ich es aus allen Poren.
Die Steinedeuterin war eine Frau namens Sylvie und ein paar Jahre jünger als wir, aber nicht so jung, dass ich das Gefühl gehabt hätte, sie würde es nicht begreifen.
»Du fragst«, sagte Eaba, als wir ankamen. »Du bist derjenige, der verstehen möchte.« Und das war ein weiterer Verdruss für mich. Eaba schien es nie etwas auszumachen, was die Dörfler redeten. Sie war offenbar noch nicht einmal neugierig, was dieses Etwas anging – als beantwortete schon seine Gegenwart all ihre Fragen, auch wenn sie niemandem sagen konnte, was es war.
Nun, dachte ich, ich werde nicht um den heißen Brei herumreden.
Ich spuckte mir in die Handfläche, und die Steinedeuterin und ich schüttelten einander die Hand. »Ist es wirklich?«, wollte ich wissen.
Sie blinzelte überrascht und tastete in ihrem Beutel nach den Steinen. Dann holte sie sie heraus und warf sie.
In meinen Augen sahen sie aus wie ganz normale Steine. Vier landeten mit dem Gesicht nach oben, sodass ihre Markierungen sichtbar waren. Der andere, ein dunkler Stein, lag mit dem Gesicht nach unten.
»Neuanfänge, Freude, Familie, Geist, mit dem Gesicht nach oben«, sagte sie, während sie leicht über sie strich. Dann berührten ihre Fingerspitzen den dunklen Stein. »Chaos«, sagte sie leise und lauschte offenbar. Schließlich lehnte sie sich zurück und schüttelte ihre Hand aus, als hätte ihr jemand in den Finger gebissen. »Nun«, sagte sie. »Was immer es ist, es ist in der Tat wirklich.« Erneut betrachtete sie die Steine, um dann einen Seufzer auszustoßen. »Viel sagen sie nicht. Da ist eine Art Geist zu euch gekommen, aber welcher Art er ist, kann ich nicht sagen. Er bringt Freude.«
»Ja!«, hauchte Eaba. »Nur Freude.«
Sylvie schaute ihr direkt in die milchigen Augen. »Für dich. Für dich bringt er Freude. Aber für andere bringt er Chaos und Aufruhr. Eine Veränderung in allem, das sie kannten oder an das sie glaubten.«
Eaba setzte sich auf die Hacken und runzelte die Stirn. »Aber warum?«, fragte sie. »Was für eine Rolle spielt es denn für sie?«
»Weil du es mehr liebst als uns!«, brach es aus mir heraus. »Du starrst doch lieber hinauf, als etwas anderes zu tun, irgendetwas!«
Sie blinzelte und starrte mich aufmerksamer an, als sie es seit einem ganzen Monat getan hatte. Einen Augenblick lang sah ich durch die Schleier in ihren Augen die Frau, die
ich liebte. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ich verlor sie.
»Ich werde blind, Mann«, sagte sie leise. »Ich liebe dich seit dreißig Jahren, und ich werde dich bis zum Tage meines Todes lieben. Aber es ist das Einzige auf der Welt, das für mich hell
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