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Die Höhle in den Schwarzen Bergen

Die Höhle in den Schwarzen Bergen

Titel: Die Höhle in den Schwarzen Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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fünfzig Männer auch lästig geworden, da er sie nicht näher kannte und sie seine vergifteten und erschossenen Gefährten nur schlecht gerächt hatten. Daher zog er es vor, hinter Harka herzugehen und sich mit einer Zeltplane, die er vom Dorfplatz holte, neben dem Jungen und bei seinem eigenen Pferd einzunisten. Harka schloß die Augen; er wollte von Joe nicht angesprochen werden.
    Aber er konnte nicht einschlafen. Er war übermüdet, seine Nerven waren überreizt, und er sah bei geschlossenen Augen und im Dunkeln immerzu die kleine verstümmelte Leiche vor sich. Er hatte oft an Uinonah, auch an Untschida gedacht, in einem entscheidenden Augenblick sogar mehr, als gut für ihn gewesen war. Jetzt dachte er zum erstenmal einfühlender an den jüngeren Bruder, der vielleicht tot war. Was mochte Harpstennah in den letzten beiden Jahren, in denen Mattotaupa mit Harka verbannt umhergeirrt war, in den heimischen Zelten durchlebt haben? Harpstennah war vaterlos geworden, schlimmer noch, viel schlimmer ­ er galt als der Sohn eines Verräters, als der Bruder eines Davongelaufenen. Harpstennah hatte nicht die Muskelkräfte oder körperliche Ausdauer, um sich selbst Achtung in der wilden Knabenhorde zu erkämpfen, und er hatte keinen großen Bruder mehr, dessen Ansehen ihn schützte. Wie oft mochte Schonka ihn verhöhnt haben! Vielleicht war er jetzt als einer der Pfeilschützen, in einem Zelte versteckt, zurückgeblieben, um sich im Kampfe auszuzeichnen. Er war ein sehr zielsicherer Schütze, und auf kurze Entfernung konnte er einen Pfeil auch mit tödlicher Kraft abschnellen. Je mehr Harka sich dieses Phantasiebild ausmalte, desto mehr begann er es für Wirklichkeit zu halten. Gewiß hatte man Harpstennah genug fühlen lassen, daß er wenig taugte, und so hatte man ihn zuletzt in den Kampf und in den Tod getrieben, und die weißen Männer hatten ihn gräßlich verstümmelt. Noch nie hatte sich Harka mit dem Jüngeren und Schwächeren so eng verbunden gefühlt wie in dieser Stunde, nachdem ihm selbst, dem stets Ausgezeichneten, zum erstenmal in seinem Leben gesagt worden war, daß es ihm an den Tugenden eines künftigen Kriegers fehle.
    Joe rief etwas, und Harka erschrak, weil er sich in seiner eigenen Vorstellungswelt befunden hatte und plötzlich herausgerissen wurde. Aber er zeigte sein Erschrecken nicht nach außen hin, sondern öffnete die Augen nur zum Spalt, durch den er sehen konnte, was vorging.
    »Hallo!« hatte Joe gerufen. »Wer bist denn du?«
    Der Angerufene war ein Kind, ein etwa zehn- oder elfjähriger Knabe, schmalbrüstig, zierlich. Er stand, als Schattenriß erkennbar, fünf Schritt von Joe und Harka entfernt. Bekleidet war er mit Mokassins, Leggings und einem über die Gürtel überhängenden Lederrock. Die gescheitelten Haare trug er offen, nur mit einem Stirnband gehalten. Seine Kleidung war für einen Jungen ungewöhnlich; um diese Jahreszeit trugen Indianerjungen keinen Rock mehr. Er hatte seine Festkleidung angelegt, die schön gestickt war; das konnte Harka auch im Mond- und Sternenschimmer wahrnehmen. Harka erkannte seinen Bruder, an den er gedacht hatte. Aber er sagte den Namen nicht, weil er nicht wußte, ob der andere den Namen sagen wollte.
    Harpstennah trat zu Harka heran. »Bist du es?« fragte er in der Sprache der Dakota.
    »Ich bin es.«
    »Ich bin hierhergekommen«, fuhr Harpstennah mit seiner Kinderstimme fort, »weil ich erfahren habe, daß ihr da seid.«
    »Hat dich unser Vater schon gesehen?«
    »Ja. Ich habe gefragt, wo du bist, und er hat mir geantwortet: Gehe zu denen, die schlafen. Da findest du ihn. Nun habe ich dich gefunden.«
    »Was willst du von mir?« Im Ton Harkas war zu spüren, daß er von neuem verletzt worden war.
    »Harka Steinhart! Wir beide sind die Söhne eines Verräters …«
    »Schweig, wenn du dein Leben liebst.«
    »Ich liebe es nicht mehr.« Auch diese Worte sagte Harpstennah mit seiner hellen Stimme, aber es waren nicht die Worte, noch war es der Tonfall eines Kindes.
    Harka war zumute, als ob ihm der andere die Eingeweide aus dem Leibe reiße. »Es gibt viele Arten zu sterben, wenn einer sterben will«, antwortete er bitter und darum hart.
    »Ich habe meine Art gewählt, Harka. Die Krieger können auch fürderhin sagen, daß ich der Sohn eines Verräters bin, eines Verräters, der sich in unseren Zelten wie ein Knabe von Tashunka-witko fesseln und von dem kleinen Mädchen Uinonah heimlich befreien ließ. Aber kein Mann wird künftig noch sagen dürfen, daß

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