Die hölzerne Hedwig
zu, dass die heutigen Hebammen große Bezirke zu betreuen hatten; auf dem Land fuhren sie zwölfhundert
Kilometer jeden Monat, nur für den Beruf. Und auch wenn es keine Hebamme gab, die auf die Uhr guckte, war es heute nicht mehr
so wie damals.
»Schätze, das ist der Lauf der Dinge. Die Alten blicken auf die Jungen herab. Die Jungen tun, was sie können. Die Frauen kriegen
ihre Kinder und bei uns tun sie es immer noch mit mehr Verstand als in der Stadt. Kaiserschnitt! Ich bitte Sie! Wer braucht
denn einen Kaiserschnitt!«
Da! Der Moment war gekommen. Sie dachte darüber nach, ob die Kommissarin Kinder hatte. Die eilte zu neuen Fragen: Wo Irena
sein mochte? Wie groß das gesundheitliche Risiko sei? Wie sich Angst und Autofahrten auswirken könnten. So schätzte es die
junge Karolina: sachliche Fragen, sachliche Antworten, zack zack, keine Pausen.
Und dann die Überraschung: »Ach ja, da war doch noch was. Oder haben Sie schon genug?«
»Reden Sie!«
Irena und die WG. Sie war da gewesen und nicht wegen einer Putzstelle. Sie war nicht mit dem Auto gekommen, aber ein zweites
Fahrrad in Fliederfarbe gab es im Ort nicht. Sie hatte es auch gar nicht versteckt, in dem alten Fahrradständer lehnte es,
der von der früheren Nutzung als Gasthaus übrig geblieben war. Manchmal stand es dort noch, wenn es dunkel wurde und am nächsten
Morgen war es verschwunden.
|59| Eine Freundin? Möglich. Bekannte? Möglich. Eine Aufgabe, die doch Geld gebracht hatte, wenn auch vielleicht keine Putzstelle?
Möglich, möglich. Aber was hatte eine wie Irena anzubieten?
»Sie wird doch irgendwelche Fertigkeiten besessen haben«, sagte die Kommissarin.
»Sicher hat sie das. Aber die Kadetten aus der WG sind doch stolz, dass sie alles können, was man auf dem Land können muss.
Die haben das Rad erfunden und wissen nicht, dass das Rad schon länger auf dem Markt ist.«
Über Stadtmenschen machte sich die Hebamme erkennbar nicht zum ersten Mal lustig. Deren naive Gläubigkeit, in eine unschuldige
Welt gekommen zu sein, amüsierte die alte Frau. Deren Überzeugung, hier draußen dichter an Schöpfung und Elementen zu leben,
fand sie unfassbar dumm. Mit mehreren Beispielen bewies sie, wie sehr moderne Sitten und Gebräuche in den Dörfern im Schwange
waren, denen man in den Städten längst mit Skepsis begegnete: Energieverschwendung; Abwässer; Vergraben von Altlasten; Wäscheladungen
mit 90 Grad, weil es richtig sauber werden sollte; und der freigiebige Umgang mit der Giftspritze im Garten und auf dem Feld.
Herbizide, Insektizide, Gift in Kanistern.
»Ja, ja, zurück zu Irena. Wen kannte sie in der WG am besten? Wissen Sie etwas, was uns helfen könnte? Kann es sein, dass
sie dort eine Person ihres Vertrauens hatte? Dass sie mit jemand über die Schwangerschaft gesprochen hat? Wie gut kennen Sie
die Bewohner dieser WG?«
|60| 12
Am Fenster stehend, fragte Küchenmeister: »Was ist das da eigentlich über der Scheune?«
»Für was halten Sie es denn?«
Küchenmeister kniff die Augen zu: »Sieht aus wie ausgebaut. Ein Studio vielleicht. Jedenfalls nobler, als wenn Sie da Ihre
Knechte unterbringen.«
Der Mann mit den imposanten Oberarmen trat neben ihn und blickte hinaus. »Ursprünglich sollten das Ferienwohnungen werden,
vor meiner Zeit. Die Idee war an sich nicht dumm. Die Gründerväter hatten nur etwas vergessen: Hier gibt es keine Touristen.«
»Sag bloß. Wir sind doch in der Heide.«
Der Kopf über den Oberarmen musterte den Kommissar. »Erstens: Es gibt keine Heide mehr. Die Heide ist ein Mythos, sie kommt
nur noch im Topf aus dem Baumarkt vor. Zweitens: Das, was es hier gibt, lockt höchstens Wochenendausflügler an. Die sind alt
und wollen abends wieder zu Hause sein. Wenn du hier Zimmer vermieten willst, musst du die Leute fesseln und knebeln.«
»Und da haben Sie …«
»Genau. Da haben wir.«
So ging das seit der Begrüßung. Der Muskulöse weigerte sich, Küchenmeisters Spiel mitzuspielen. Er brauchte jedesmal eine
Extraeinladung, bevor er auf unklare Fragen klare Antworten gab. Er hieß Popeye und hatte sich freiwillig mit seinem unvermeidlichen
Kosenamen vorgestellt. Popeye war 22 Jahre zur See gefahren, hatte abgemustert, hatte zu trinken begonnen, hatte geheiratet
und sich scheiden lassen, alles |61| in elf Monaten. Er war über Land gefahren und hatte abends in der Kneipe nur kurz essen wollen, bevor es weitergehen sollte.
In der »Hölzernen Hedwig« war er
Weitere Kostenlose Bücher