Die hölzerne Hedwig
auf den Rest einer Trauergesellschaft gestoßen, die am Vormittag einen Mitbürger zu Grabe
getragen hatten. Angesoffen pendelten die Trauernden zwischen Kegelbahn und Tischen und Popeye erfuhr, dass man einen neuen
Pächter für die Karpfenteiche brauchte. Elf Teiche und ein See, in den sie dermaßen viele Fische warfen, dass die Angler,
die für einen Tagesschein acht Euro berappten, die Fische genauso gut mit beiden Händen hätten herausschaufeln können.
Eine Woche später wurde der Vertrag gemacht. Das war vor sechs Jahren. Fast so lange wohnte Popeye nun im ehemaligen Gasthof.
Lange hatte er das Gelände umschlichen, in das einige Jahre vorher drei Städter eingezogen waren: Kassian, einst Chefredakteur
führender Adressen, die er mit exorbitanten Abfindungen verlassen hatte; sein Sohn Karl, heute 20; Dora Messer, Miss Germany
von 1983, A-Promi der Klatschpresse, die nach einem Tauchunfall, der sie fast das Leben gekostet hatte, ihr Dasein radikalen
Änderungen unterzogen hatte und seitdem so ernsthaft lebte, wie sie es vorher fahrlässig getan hatte. In der Anfangszeit hatte
ein Freund Kassians hier gewohnt, ein weit gereister Reporter, dem bald die Kiefern auf den Kopf gefallen waren und der jetzt
als Winzer in Chile lebte. Später waren neben Popeye noch die »Lebenslängliche« gekommen, Ev Salomon, die für den Mord an
ihrem Geliebten 16 Jahre abgesessen hatte und Kassian für sein einfühlsames Porträt kurz nach ihrer Verurteilung seinen ersten
Journalistenpreis eingebracht hatte. Kurz nach Evs Entlassung waren ihm für eine weitere Reportage |62| weitere Ehrungen zuteil geworden, da hatten sie bereits zusammen gewohnt. Der Kommissar hatte sie noch nicht gesehen, aber
Popeye hatte sich optimistisch über Evs gegenwärtigen Zustand geäußert.
Anselm Kassian betrat den Raum und Popeye wurde unsichtbar. Es war nicht so, dass Kassian sich in den Vordergrund drängte,
Popeye nutzte einfach die Gelegenheit, sich unsichtbar zu machen.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Kassian nach der Begrüßung. »Sie haben ihm Fragen gestellt und Antworten erwartet. Dafür ist
der Mann nicht gemacht.«
»Für Fragen nicht oder für Antworten nicht?«
»Er hat gesagt, die beste Antwort ist die, nach der dem Fragensteller keine weitere Frage mehr einfällt. Fand ich tiefgründig
– auch wenn es natürlich für meinen Beruf das Ende bedeuten würde.«
Kassians Händedruck war übertrieben fest gewesen. Als müsse er zeigen, dass er aus hartem Holz geschnitzt war. Verwittert
sah er aus, der in allen Tönen zwischen weiß, grau, silbrig und gelb schimmernde Bart wurde mit einer Hundeschere gepflegt,
ebenso das Haupthaar. Küchenmeister kannte sich damit aus, seitdem er in einem Griechenland-Urlaub vom Inselfrisör bequatscht
worden war.
An den Beinen trug Kassian groben Cord mit Spuren gehobelten Holzes. Er roch auch so, seine Zähne waren noch echt – Belohnung
für ein kostspieliges Leben als Privatpatient.
Er entschuldigte sich für sein verspätetes Erscheinen, angeblich half er einem Nachbarn, den Dachstuhl auszubessern. Kassian
sehnte sich nach interessierten Fragen. Als sie ausblieben, redete er unaufgefordert darüber, wie ungeschickt |63| er gewesen sei, als er hierher gezogen war und was er sich jetzt alles zutraute. »Noch zehn Jahre und ich werde eine Kirche
restaurieren.«
Küchenmeister wurde bewusst, dass es hier keine Kirche gab. In einer katholischen Gegend wäre wenigstens eine Kapelle zu besichtigen
gewesen.
Natürlich wusste Kassian vom Mord, das war ihm wichtig. »Wir sind eingebunden, müssen Sie wissen. Wir sind keine Besucher.«
»Was ist so toll daran, in einem Kuhdorf einer aus dem Kuhdorf zu sein?«
Kassian steckte den Anwurf weg. Freundlicher hatte er in seinen aktiven Zeiten auch nicht gefragt.
»Man kommt in seinem Leben an Kreuzungen«, erklärte er salbungsvoll. »Man entscheidet sich für eine Richtung, und wenn man
älter ist als zwanzig, soll es eine Richtung sein, die für länger ist. Wenn Sie ein Leben lang geflogen sind und chauffiert
wurden, wenn Sie Meilen gesammelt haben und in 15 Städten in den besten Restaurants mit Ihrem Namen angeredet wurden, dann
wissen Sie: Nun ist gut. Entweder man führt das Leben einer Fratze, zugegeben einer prominenten Fratze. Oder man sortiert
sich neu.«
So hatte er gleich einen Pfahl eingerammt, den er eigenhändig angespitzt hatte. Küchenmeister mochte den Mann nicht, er war
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