Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
ich sie so niedergeschlagen sah, fühlte sich mein Herz wie eine ausgepresste Orange an. Die Brust wurde mir so eng, dass ich nicht mehr tief Luft holen konnte. Die Tränen, die über Mamas Wangen geströmt waren, hatten Linien bis zum Kinn hinterlassen.
Sie seufzte tief und fuhr sich mit den dünnen Fingern durchs Haar, das früher einen gesunden Glanz hatte und jetzt stumpf wirkte und von grauen Strähnen wie eine Drohung des Alters durchzogen war. Ich hasste es zu sehen, wie Mama alterte. Kummer und Sorgen beschleunigten die Zeiger ihrer Lebensuhr. Ich wollte, dass sie immer jung blieb mit einem Gesicht voller Lächeln und Hoffnung und eine Stimme voller Lachen und Liedern. So lange ich denken konnte, musste Mama hart arbeiten. Sie hasste die Vorstellung, von der Fürsorge zu leben. Ganz gleich wie verschwenderisch und nachlässig Ken war, Mama gab nicht klein bei. Ihr Stolz hielt sie eisern aufrecht.
»Solange noch ein Gramm Kraft in diesen Armen und Beinen ist«, sagte sie uns, »werde ich mir nicht von den Behörden sagen lassen, dass ich ein Teil des Problems bin. No, Sir, no, Ma’am. Latisha Carrol hat noch einen weiten Weg vor sich, bis sie ganz unten angekommen ist.«
Im Augenblick sah es so aus, als sei sie fast so weit gekommen. Sie arbeitete in Krandels Supermarkt, füllte Regale auf und packte die Lebensmittel in Tüten, wie ein Highschool-Abbrecher. Aber sie beklagte sich nie.
Keiner von uns hatte einen Job, aber als Roy noch jünger war, ging er zum Supermarkt, um sich ein Trinkgeld zu verdienen, wenn er den Leuten die Einkäufe zum Auto trug. Einmal gab ihm eine ältere weiße Lady einen Zwanziger.
Mama war sich sicher, dass sie ihm einen Dollar hatte geben wollen und sich geirrt hatte. Sie sagte Roy, er sollte auf die Lady warten und ihr das Geld wiedergeben, sobald er sie sah. Roy wollte nicht. Diese zwanzig Dollar brannten ihm fast ein Loch in die Tasche, aber er hatte Angst, sie auszugeben. Schließlich sah er die alte Lady wieder und erzählte ihr, was sie getan hatte. Sie schaute ihn an, als wäre er verrückt, und meinte, er müsse sich irren. Solche Fehler machte sie nicht. Er kam nach Hause gerannt, um es Mama zu erzählen, die sich zurücklehnte, nachdachte und sagte: »Also, Roy, wenn diese alte weiße Lady so arrogant ist, dass sie einen Fehler nicht zugeben kann, dann gehört es dir.«
Ken sagte ihm, er hätte sich überhaupt nicht die Mühe machen sollen, es zurückzugeben, aber Mama hatte immer einen größeren Einfluss auf uns als Ken. Ich erinnere mich nicht genau, wann Roy den Respekt vor unserem Daddy verlor, aber ich glaube, Ken wusste die ganze Zeit, dass sein Sohn keine Achtung vor ihm hatte.Vielleicht war das einer der Gründe, warum er so häufig nicht nach Hause kam.
»Euer Daddy hat uns mal wieder verlassen«, sagte Mama.
»Gut, dass wir ihn los sind«, fauchte Roy.
»Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du so redest, Roy Arnold. Er ist immer noch dein Vater, und du weißt, dass in der Bibel steht, du solltest Vater und Mutter ehren.«
»Gott dachte nicht an ihn, als er das niederschrieb, Ma«, sagte Roy wütend.
»Wage es ja nicht zu behaupten, du wüsstest, was Gott meinte oder vorhatte, Roy Arnold«, schnauzte sie ihn an. Ihre Augen glühten leidenschaftlich. Mama hatte immer das Gefühl, sich an ihre Religion zu halten sei das Einzige, das
uns zusammenhielt. Sie ging nicht regelmäßig zur Kirche, sie trieb uns auch nicht so pflichtbewusst zur Kirche wie manche anderen Mütter, aber sie ließ uns nie zu weit von Gebet und Bibel abkommen.
Roy schüttelte den Kopf und ließ ihn hängen, als sacke er vor Erschöpfung zusammen.
»Ich gehe wieder ins Bett«, murmelte er.
»Ihr geht alle zurück ins Bett. Ihr habt morgen früh Schule, und ich will euch Mädchen nicht wachrütteln, hört ihr?«
»Gehst du auch ins Bett, Mama?«, fragte ich sie.
»Bald«, antwortete sie.
Ich schaute Beni an. Wir wussten beide, dass sie fast die ganze Nacht wach bleiben und sich vor Sorgen hin- und herwälzen würde. Rechnungen waren die Gespenster, die unser Zuhause heimsuchten, ihre Zahlen an den Wänden von Mamas Zimmer aufblitzen ließen und auf ihren Schultern hockten. Ken machte sich nie Sorgen um unsere Rechnungen. Es war immer ein Kampf, ihn dazu zu bewegen, einige unserer Ausgaben zu bezahlen, bevor er seinen Lohn, wenn er denn einen hatte, für sein eigenes Vergnügen und Amüsement ausgab.
Immer wenn Ken davonlief, verschwand sein Gehaltsscheck mit ihm, und
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