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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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den Tränen. Sie konnte nicht sprechen, nickte nur.
    »Aber Simon weiß es besser«, meinte Colin. »Das Kind zu opfern würde ihm gar nichts nützen. Das Mädchen bedeutet ihm nichts, er verachtet es sogar. Und wer bringt schon als Opfergabe dar, was er für wertlos hält? Opfern kann man nur, was einem persönlich lieb und teuer ist. Warum also sollte Simon versuchen, dieses Kind auf seinem Altar zu töten?«
    »Auch Sie halten Chrissy für … für wertlos, weil sie behindert ist?« Leslie war schockiert über dieses Wort.
    Colin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Was Kinder wie Christina Hamilton angeht, vertrete ich eine vollkommen andere Ansicht. Eines Tages werde ich versuchen, Ihnen klarzumachen, warum solche Kinder sich meiner Meinung nach für diesen schwierigen und tragischen Weg der Buße entschieden haben. Aber Simon hält sie für … menschlichen Müll. Deshalb verstehe ich nicht, wie Sie darauf kommen, daß er ein solches Kind opfern will.«
    »Weil er verrückt geworden ist!« rief Leslie. »Er ist total durchgedreht!«
    »Es verwundert mich, diese Sprache von einer Psychologin zu hören«, gab Colin zurück.
    »Ich meine … er ist nicht mehr in der Lage, rational zu denken. Er ist einer Wahnvorstellung erlegen …«
    »Sie verstehen mich immer noch nicht richtig«, unterbrach Colin sie. »Denken Sie nach, Leslie! Selbst wenn Sie der Ansicht sind, Simons Gedankengänge seien das Ergebnis eines Irrglaubens, so müssen Sie doch zugeben, daß seine Wahnvorstellungen einem logischen Ablauf folgen, der auf seinen Überzeugungen beruht – und wie diese Überzeugungen aussehen, wissen wir beide. Das Wort ›Opfer‹ bedeutet, etwas herzugeben oder zu zerstören, das einem kostbar ist. Deshalb wäre nach Simons Glaubensgrundsätzen – ob irrig oder begründet – Chrissys Opferung ohne Wert für ihn.«
    »Die andere Frau, die drogensüchtige Prostituierte …«
    »Ich habe keine Ahnung, wieviel Sie von solchen Dingen wissen«, sagte Colin, »aber Simon besaß eine Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zu ihr herzustellen. Sex, egal wie flüchtig oder kommerziell er ausgeübt wird, schafft ein starkes inneres Band. In unserer Gesellschaft, in der sexuelle Beziehungen entweder höchst konventionell oder notwendigerweise heimlich sind, sorgen Perversitäten und dergleichen, die in aller Verstohlenheit ausgeübt werden, für eine noch stärkere mentale Verbindung. Das ist einer der Gründe dafür, daß in der Geschichte zu manchen Zeiten und an manchen Orten die Homosexualität verabscheut wurde. Sie stellte ein zwangsläufig geheimes Band dar, dessen Bruch einen Verrat auf einer tieferen Ebene bedeutete. Deshalb ziehen Menschen, die Homosexualität tolerieren, die Grenze erst bei sadomasochistischen Praktiken, und aus demselben Grund stellt selbst unter Heterosexuellen Sadismus immer noch ein Tabu dar. Es heißt, der berüchtigte Gilles de Rais habe dieses Potential – die skrupellose Ausnutzung von Macht – an kleinen Kindern erforscht. Aber Christina ist, wie Sie sagen, geistig zurückgeblieben und stumm; daher könnte Simon gar kein Band zu ihr schmieden, das fest genug wäre. Und deswegen – ich wiederhole – kann Chrissy nicht sein Ziel sein. Simon würde sich nicht die Mühe machen, das Mädchen sinnlos zu opfern.«
    »Warum hat er sie dann entführt?« rief Leslie, aber noch bevor Colin antwortete, traf die schockhafte Erkenntnis sie wie ein Blitzschlag.
    »Ah«, sagte Colin, »wie ich sehe, haben Sie sich die Antwort soeben selbst gegeben. Ja, Leslie, er benutzt das Kind als Lockvogel oder Ablenkung. Er weiß, daß Sie ihm dadurch in die Hände fallen werden. Oder …« Er zögerte. »Oder noch wahrscheinlicher der Mensch, der ihm am kostbarsten ist. Emily.«
    Leslie hielt sich krampfhaft an den Stuhllehnen fest, so schwindlig war ihr plötzlich. »Aber er liebt Emily …«, flüsterte sie.
    »Erst recht ein Grund, sie zu opfern.«
    »Und er glaubt, daß ich …« Leslie konnte buchstäblich nicht weitersprechen. Sie hatte die Wendung ›das Entsetzen schnürt einem die Kehle zu‹ stets für eine Metapher gehalten. Nun erlebte sie, daß es eine exakte Beschreibung ihres derzeitigen Zustands war.
    »Was können wir tun?« brachte sie endlich im Flüsterton hervor. »Wie können wir ihn aufhalten?«
    »Vielleicht steht uns das gar nicht zu Gebote«, erwiderte Colin. »Zuerst müssen wir den Ort finden, den er sich für sein Werk ausgesucht hat … und Sie können sicher sein, daß es

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