Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
es wieder nach Jasmin und Geißblatt. Leslie legte den Arm unter Colins Ellbogen, und er stützte sich darauf. Ob Wirklichkeit, Sinnestäuschung, Autosuggestion – das Bannritual war erfolgreich gewesen.
    Leslie legte die Hand auf den Türknopf der Garage und fuhr entsetzt zurück. Sie besaß keinen Schlüssel. Wie geschickt Simon sie manipuliert hatte! Ich gebe dir sogar einen Schlüssel, wenn du mir nicht traust, hatte er gesagt. Wie hätte sie ihm da antworten können, daß sie ihm nicht traute?
    Als Leslie dastand, die Hand an die Tür gelegt, schien das Entsetzen aus dem Inneren des Raumes zu dringen und sie in gewaltigen Wogen zu überrollen. So etwas hatte sie schon einmal empfunden, in ihren Alpträumen. Für einen Moment wünschte sie sich, sie würde erwachen und feststellen, daß alles wieder nur ein böser Traum gewesen war.
    Dann legte Colin die Hand auf das Schloß.
    Zuerst glaubte Leslie, der alte Mann hätte, ihren Blicken verborgen, einen Trick mit einer Kreditkarte oder einer Haarnadel oder irgendeinem kleinen Gegenstand vollführt, den er in der Hand hielt. Doch Leslie wußte, was sie sah: Colin legte bloß die Fingerspitze auf das Schlüsselloch und wisperte etwas, das sie nicht verstand. Ihr war, als würde sie einen winzigen blauen Lichtblitz sehen. Dann drehte Colin den Türknopf, und sie traten ein.
    Leslie erblickte flüchtig den Altar, die Kerzen, Simon – und dann sah sie ihre Schwester. Emily trug eine weiße, tief ausgeschnittene Robe, und für einen Moment glaubte Leslie voller Entsetzen, einen dunklen Blutfleck zwischen den Brüsten ihrer Schwester zu erkennen. Dann bemerkte sie, daß es eine purpurrote Rose war. Emilys Haar fiel ihr offen um das Gesicht. In der Mitte des Raumes, im Zentrum eines Musters mit Kreide gezeichneter Linien (ein Pentagramm, dachte Leslie zuerst, doch das Symbol unterschied sich auf subtile Weise von einem Drudenfuß), befand sich Chrissy. Irgendwie wirkte das Bild gerade dadurch, daß das Mädchen immer noch seine schmutzigen Jeans und seinen abgetragenen, rotweiß gestreiften Strickpullover trug, noch entsetzlicher. Das Kind lag so regungslos da, daß Leslie einen furchtbaren Augenblick lang glaubte, Chrissy sei tot. Und um die stille Gestalt des Mädchens herum waberte unstet der blutüberströmte, geisterhafte Umriß der weißen Katze.
    Das alles – Emily, die blicklos vor sich hin starrte, ihre bloßen Brüste, das reglos daliegende Kind und der umherschwebende Schatten der weißen Katze – nahm Leslie binnen Sekunden in sich auf. Dann sah sie Simon, und alles andere versank.
    Bis auf einen großen, weiten, blutroten Umhang und einen Ledergürtel mit einer Art Schwertscheide war er nackt. Gebeugt stand er vor einem Altar, auf dem ein Feuer und Weihrauch brannten, der eigenartig streng und durchdringend duftete. Der Anblick der vertrauten rituellen Gegenstände, die auf so blasphemische Weise mißbraucht wurden, ließ Leslies Puls schneller schlagen und ihr Herz vor Zorn pochen. Noch vor wenigen Minuten war sie krank vor Angst um Simon gewesen, hatte Mitleid mit einem Wahnsinnigen empfunden. Aber hätte sie jetzt eine Waffe in der Hand gehalten, wäre sie ebenfalls zu einem Mord fähig gewesen.
    In diesem Moment erkannte sie nicht – noch nicht –, warum diese Empfindungen so dicht unter der Oberfläche ihres Bewußtseins schlummerten. Mit einem raschen Blick sah sie noch etwas anderes auf dem Altar: ein schimmerndes Messer. Das Licht der Kerzen brach sich auf der scharfen Klinge.
    Und das Entsetzlichste war, daß weder Simon, Emily noch Chrissy irgend etwas gehört zu haben schienen; sie hatten nicht einmal mit der Wimper gezuckt, obwohl Leslie und Colin ganz normale Geräusche verursacht hatten, als sie ins Atelier eingedrungen waren. Weder Chrissy, die stumm und ausdruckslos an die Decke starrte, noch Emily, die zusammengesunken dastand, die Rose zwischen ihren Brüsten, hatten sich gerührt. Und auch Simon nicht, der nackt vor seinem scheußlichen Altar kauerte, nun aber seine verstümmelte Hand nach dem Messer ausstreckte.
    Dann hörte sie Colins Schrei. »Simon – Pilger, Magister, Diener des Herrn! Im Namen des allmächtigen Gottes und des Lichts, in das ich dich einst geführt, sage ich nein !«
    Simon sprang auf. Sein Gesicht war verzerrt, sein verletztes Auge zuckte vor Schmerz, und seine Hand hatte sich zusammengekrampft. Er bleckte die Zähne wie ein wildes Tier und stieß einen unartikulierten Laut aus. Mit der gesunden Hand hielt er

Weitere Kostenlose Bücher