Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley

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nichts davon gewußt! Er hatte unter Medikamenten gestanden und war halb wahnsinnig vor Schmerz gewesen … und er hatte blind vor Zorn gegen das Schicksal aufbegehrt, das seine Hand zerschmettert und sein Auge zerstört und seine Karriere ruiniert hatte.
    Leslie sah Simon, wie er sich verzweifelt als Poltergeist in Alisons Musikzimmer projizierte und sich ihr in seinem nackten Elend zeigte …
    Leslie bog in die Einfahrt zu ihrem Haus ein. Chrissy. Ich muß Susan anrufen und ihr wegen ihrer Tochter Bescheid sagen. Hat Simon gewußt, daß die Suche nach Chrissy mich beschäftigen würde? Hat er auf die Blindheit einer Hellseherin gezählt, was Dinge angeht, die sie persönlich betreffen, und geglaubt, ich würde panisch im Kreis laufen und Chrissy suchen, bis er sein Werk vollendet hat?
    Als sie ausstiegen, legte Colin die Hand auf Leslies Schulter. »Glauben Sie ja nicht, daß das Kind außer Gefahr ist«, sagte er leise. »Simon weiß mit Sicherheit, daß der Tod des Mädchens ihn nicht heilen kann, weil sie ihm nichts bedeutet. Aber die Macht von Chrissys vergossenem Blut könnte die Kräfte in Simons Umgebung erwecken, so daß das wirkliche Opfer tiefer ins Reich des Unsichtbaren eindringt.« Bedächtig schaute der alte Mann auf seine Taschenuhr. »Wir brauchen uns nicht zu beeilen. Es ist kurz vor fünf. Er wird erst um vierzehn Minuten nach fünf zuschlagen.«
    »Woher wissen Sie das?« fragte Leslie fassungslos.
    »Weil ich die Kräfte und Strömungen kenne, die er sich zunutze macht«, erwiderte Colin mit ruhiger Stimme. »Er wird in dem Augenblick handeln, wenn Mars, im Zeichen des Skorpions mit dem Mond vereint, in Konjunktion mit Saturn tritt, dem Herrn des Todes.«
    Gerade die Ruhe und Überzeugung, mit der Colin sprach, ließ Leslie das Blut in den Adern gefrieren. Nicht der Wahnsinn erfüllte sie mit Entsetzen, sondern diese rationale, unpersönliche Logik.
    »Glauben Sie, ich wäre noch nie in dieser Richtung versucht worden, Leslie? Das gehört zur Ausbildung all jener, die den Pfad beschreiten – die Versuchung, sein Wissen zu mißbrauchen.« Mit einem angedeuteten Kopfnicken wies er auf die Garage. »Das hier ist Ihre Versuchung. Denken Sie immer daran, während wir diese Sache durchstehen, mein Kind.«
    Sein gelassener Tonfall beruhigte Leslies hysterisch umherschießende Gedanken, während sie die Auffahrt hinaufgingen.
    Plötzlich hielt Colin inne, preßte eine Hand aufs Herz und schwankte. Im selben Moment spürte Leslie es auch – ein Gefühl, als wäre die Luft mit etwas Klebrigem gesättigt, und als würden sie durch Teer waten. Und sie fühlte den scharfen Schmerz, der an Colins Herz zerrte. Auch Colin war alt – fast so alt, wie Alison gewesen war.
    »Er hat diesen Ort … mit etwas abgeschirmt, das … zu überwinden mir Mühe macht«, stieß Colin keuchend hervor. »Es wird mich all meine Kraft kosten, gegen ihn … anzukämpfen.« Mühsam hob er die Hände. Seine Lippen bewegten sich. Leslie verstand nicht alle Worte, aber ein Flüstern drang zu ihr. »Ich werde … die Lichtrüstung anlegen. In deine Hände, o Herr …«
    Leslie konnte die feindliche Macht als halbstofflichen Wirbel vor ihren Augen erkennen. Später vermochte sie sich nicht mehr an die Bilder zu erinnern, die sie von diesem Etwas empfangen hatte, das ihnen den Weg versperrte; nur an flüchtige Reflexe, die an Schlangen oder Skorpione denken ließen – nein, nicht an etwas so Natürliches, sondern an Kreaturen mit Schuppen und Fängen und Stacheln; Kreaturen, die nicht existierten, aber dennoch auf Leslie einstürmten und versuchten, sie weniger durch physische Macht als durch den Ekel zurückzuhalten, den sie ihr einflößten.
    Panisch versuchte Leslie, sich Teile des Rituals ins Gedächtnis zu rufen, das Claire durchgeführt hatte, und stellte sich eine brennende Kerze in ihrer Hand vor. Manifestationen von Gedanken können durch andere Gedanken gebannt werden, dachte sie. Sie hielt den Kreaturen die Flamme entgegen und formulierte im Geist die Worte: Wo Dunkelheit wohnt, laß Licht einkehren. Ihr Selbstvertrauen wuchs, und plötzlich wußte sie, was sie tun mußte. Sie stellte sich die Wassertropfen vor, die Claire in die Ecken des Raumes gespritzt hatte, und rief laut aus: »Weichet, weichet, weichet von hier !«
    Vor ihren Augen trafen die Tropfen auf die Wesenheiten. Leslie roch etwas Fauliges, einen Gestank wie aus einem Abwasserrohr; dann schrumpften die Gestalten zusammen und verschwanden. Im Garten duftete