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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Erbe ihrer Großmutter, die kurze Zeit als Konzertharfenistin aufgetreten war und einige Platten aufgenommen hatte, kaum etwas Größeres leisten als dieses Schmuckstück im Nobelviertel Russian Hill, das der Makler Leslie vorhin angeboten hatte. Emilys Anteil am Erbe war für ihr Musikstudium vorgesehen, doch Leslie würde der Schwester wahrscheinlich lange vor der Abschlußprüfung finanziell unter die Arme greifen müssen. Wie dem auch sei – sie brauchten auf jeden Fall eine Wohnung, die Platz für sie beide bot. Schon jetzt hatte Emily schwer an der unumgänglichen Einschränkung zu knabbern, daß sie ihre Klavierübungen erst aufnehmen konnte, wenn Leslies letzter Patient gegangen war.
    Leslies Praxis entwickelte sich gut, aber es hätte noch besser laufen können. Sie setzte ihr Honorar noch immer nach dem Einkommen des jeweiligen Patienten an, statt wie ihre Kollegen feste Sätze zu berechnen, was sich schon deshalb empfehlen würde, weil die Psychotherapie eine Luxus-Dienstleistung war – und je höher das Honorar, desto besser der Ruf des Therapeuten.
    Was hatte sie in Sacramento als Schulpsychologin schon groß bewirkt? Und ihre Dienste waren wie ein Almosen an Minderbemittelte verteilt worden. Leslie besaß Einfühlungsvermögen im Umgang mit schwierigen Teenagern, wenngleich sie selbst um eine rebellische Jugend betrogen worden war. Während alle anderen mit Hasch und Demos den Aufstand probten, hatte Leslie geschuftet, um sich durchzubringen, hatte ihr Studium selbst finanziert und obendrein den Kampf um Emilys Freiheit aufgenommen. Nach dem Examen war Leslie von der Mutter gedrängt worden, eine Stelle als Schulpsychologin anzutreten, statt eine eigene Praxis zu eröffnen. Und nun hatte Mutter entschieden, Emily ein ähnliches Schicksal erleiden zu lassen: Nach dem Abschluß sollte sie Musik an einer Schule unterrichten. Die hochtalentierte, hochsensible Emily! Der Gedanke erschien Leslie so absurd wie die Vorstellung, eine Sekretärin einen Kohlenkarren ziehen zu lassen oder, um beim Bild zu bleiben, Maria Callas als Basketballtrainerin einer High-School-Mannschaft einzusetzen.
    Leslie hatte damals beschlossen, Emily ihre Chance zu verschaffen, selbst wenn das bedeutete, daß sie selbst ein Leben als Schulpsychologin fristen mußte. Das Erbe der Großmutter war für Leslie zu spät gekommen, um ihr eine normale Jugend und eine sorgenfreie Studienzeit zu ermöglichen; doch für Emily hatte der Erbteil die Freiheit bedeutet. Und der Skandal, der Leslie später genötigt hatte, ihren Abschied vom staatlichen Schulsystem zu nehmen, hatte wenigstens ein Gutes gehabt: Er hatte den Geschwistern die Freiheit beschert. Die Mutter hatte Leslie keine Träne nachgeweint; sie war sogar froh gewesen, ihre Älteste loszuwerden. Doch daß Leslie die jüngere Schwester mitgenommen hatte, würde Mom ihr nie verzeihen.
    Leslie fluchte, als ein riesiger Laster mit zwei Anhängern sie schnitt und sich vor sie setzte. Zugleich fielen ihr die Schlagzeilen auf der Titelseite des National Enquirer wieder ein:
     
    RATTENSCHWANZ-MÖRDER VON HELLSEHERIN ENTTARNT!
    Lehrerin mit sechstem Sinn entdeckt Leiche
    des vermißten Schulmädchens
     
    Zufall, sagte Leslie sich wieder einmal. Jeder Mensch hat ab und zu solche Eingebungen. Sie biß die Zähne zusammen und umfaßte das Lenkrad fester. Es herrschte dichter Verkehr. Dabei hatte sie gehofft, zurück zu sein, ehe auf der Bay Bridge der Berufsverkehr einsetzte. Wahrscheinlich ein Unfall auf der Brücke. Mit aller Kraft konzentrierte Leslie sich auf den Wagen, der im Stau vor ihr schlich, um nicht von neuem zu sehen, was ihr damals blitzartig vor Augen gestanden hatte: Juanita Garcías lebloser, blutüberströmter Körper, der in einem Abwasserkanal lag. Ihr Mörder, der zuvor schon vier junge Mädchen vergewaltigt und verstümmelt hatte, hatte ihr das lange Haar zu Zöpfchen geflochten.
    Nein, Leslie wollte sich nicht erinnern! Sie hatte sich ein neues Leben, eine neue Welt aufgebaut. Joaquin Mendoza, den man »Rattenschwanz-Mörder« getauft hatte, weil er das lange Haar seiner Opfer zu Zöpfen flocht, saß immer noch in der Todeszelle. Leslie hielt nichts von der Todesstrafe, aber um sein Leben zu retten, hätte sie keinen Finger gerührt. Sie hatte Juanita Garcías Leiche vor ihrem inneren Auge gesehen und die Polizei zum Tatort geführt.
    Aber spielte es heute noch eine Rolle, daß die Zeitungen sich damals auf Leslies paranormale Eingebung gestürzt hatten, auf ihre

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