Die Hüter der Schatten
plötzliche übersinnliche Wahrnehmung, oder wie immer man es nennen wollte? Leslie hatte damals nur ein paar Tage lang die Schlagzeilen der Lokalpresse beherrscht: Schulpsychologin entdeckt Opfer des Rattenschwanz-Mörders. Und wer erinnerte sich schon daran, was in Revolverblättern wie dem Enquirer stand?
Leslie hatte ihr bisheriges Leben und ihre traurige Berühmtheit in Sacramento zurückgelassen. Falls es ihr gelang, in San Francisco Fuß zu fassen, würde diese Vergangenheit endgültig hinter ihr bleiben. Sofern sie hier jemals eine Wohnung fand. Inzwischen hatte sie sich fünf Häuser angeschaut, ohne das Richtige zu finden.
Leslie fragte sich, weshalb sie stets einen Grund fand, jedes Objekt auszuschlagen, das ihr angeboten wurde. Das vollkommene Haus gibt es nicht, sagte sie sich bestimmt. So oder so würde sie sich zu Kompromissen durchringen müssen. Fest entschlossen, die Entscheidung nicht mehr auf die lange Bank zu schieben, nahm Leslie die Autobahnausfahrt und fuhr durch die Straßen Berkeleys zu dem winzigen Häuschen, das sie dort gemietet hatte.
Sie parkte den Wagen in der Einfahrt. Der Mietvertrag verlängerte sich am ersten Mai automatisch um ein Jahr, und sie hatte keine Lust, weitere zwölf Monate hier festzusitzen.
Aber darüber konnte sie später nachdenken. Heute abend hatte sie den ersten Termin mit einer neuen Patientin.
In der Erinnerung ging sie die Akte noch einmal durch. Eileen Grantson, vierzehn Jahre alt. Verhaltensauffälligkeiten; gewalttätige Wutanfälle, die sie später leugnete; ständige Auseinandersetzungen in der Schule. Eltern geschieden, Sorgerecht beim Vater. Die Mutter hatte in zweiter Ehe nach Texas geheiratet. Keine Geschwister. Wahrscheinlich hatte das Mädchen allen Grund, wütend über seine Lebensumstände zu sein.
Immerhin hatte Leslie es lieber mit einem Mädchen zu tun, das bereits Mechanismen entwickelt hatte, seinem Zorn Ausdruck zu verleihen, und nicht mit einer jungen Patientin, die ihre Aggressionen leugnete. Der Mensch war erschreckend und wunderbar zugleich. Deswegen war Leslie Psychologin geworden. Es erstaunte sie immer wieder, wozu der menschliche Geist in der Lage war.
Eileen Grantson wirkte nicht eben einnehmend. Ihr Haar war mausbraun und strähnig, und die Augen, die sie hinter einer dicken Brille mit Plastikgestell versteckte, waren von einem verwaschenen Blaßblau. Das Mädchen sank auf den Stuhl, als bestünde ihr Rückgrat aus Gelee.
Die Sitzung war fast vorüber, und immer noch hatte Eileen kaum ein Wort gesprochen. Selbst die wenigen Äußerungen Eileens hatte Leslie dem Mädchen geradezu aus der Nase ziehen müssen. Seltsam. Die meisten Teenager waren allzu gern bereit, ihren ganzen Groll gegen die Welt hinauszusprudeln.
»Du bist manchmal sehr wütend auf deinen Vater, nicht wahr, Eileen?«
»Dad hat sie nicht alle«, murmelte Eileen verdrossen. »Ich glaub’, er schmeißt die blöden Teller selbst kaputt, damit er nachher einen Aufstand machen und behaupten kann, ich wär’s gewesen.«
Leslie wahrte das besänftigende Lächeln und den neutralen Tonfall, den man sie während ihrer Ausbildung gelehrt hatte. »Warum sollte er so etwas tun?«
»Weil er mich haßt. Er ist mein Dad und ich hab’ ihn lieb, aber er will gar nicht, daß jemand ihn gern hat. Er hat meine …« Eileen stieß ein ersticktes Schluchzen aus und schniefte. »Der Kerl, mit dem Mom rumgemacht hat, war bloß ein Vorwand. Wenn mein Daddy sie liebgehabt hätte, wäre sie nicht gegangen.« Nach dieser für Eileens Verhältnisse langen Rede sank sie wieder zu einem schlaffen Bündel aus Schweigen und Selbstmitleid zusammen, als hätten diese Worte ihr selbst angst gemacht.
Leslie dachte über das Gehörte nach. War sie einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter auf der Spur? (Freud hatte so etwas für eine weitverbreitete Phantasievorstellung gehalten. Schade, daß er nicht mehr entdeckt hatte, daß so etwas nur allzu oft geschah und sogar in der neurotischen viktorianischen Zeit vorgekommen war, als Freud seine Theorien entwickelt hatte und als ohnmächtige, traumatisierte Töchter ihren verklemmten Vätern praktisch auf Leben und Tod ausgeliefert waren.) Vielleicht hatte Grantson – unfähig, seine Schuld offen einzugestehen – eine Art Befreiungsschlag geführt, indem er seine Tochter zur Therapie schickte, bei der sie früher oder später ihr beschämendes Geheimnis offenbaren und sie auf diese Weise beide erlösen würde.
Doch Leslie glaubte
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