Die Hüter der Schatten
was ich zu sehen geglaubt habe, dachte sie finster. Schließlich heftete sie den Bericht ab. Dann überlegte sie, wie sie der Sache auf den Grund gehen sollte.
Sie erinnerte sich dunkel an eine Untersuchung über Poltergeist-Phänomene, verfaßt von einem seriösen Psychologen. Morgen würde sie in die Universitätsbibliothek von Berkeley gehen und versuchen, das Buch aufzutreiben. Wenn ihr Patient ein Poltergeist war, mußte sie soviel wie möglich über derartige Erscheinungen in Erfahrung bringen – falls es überhaupt etwas Brauchbares herauszufinden gab.
Leslie seufzte tief. Nach dieser Sitzung sehnte sie sich nur noch nach einer Tasse Tee und einem Bad mit Bergen duftenden Schaums, in dem sie sich eine Stunde lang mit einem Kitschroman aalen wollte, um dann bis zum nächsten Morgen an nichts mehr zu denken.
Auf dem Weg zum Bad sah sie, daß das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Leslie drückte die Abspieltaste. Ein neuer Patient vielleicht. Oder Emily hatte Bescheid gesagt, daß sie später nach Hause kam. Vielleicht hatte der Immobilienmakler sich mit einem neuen Angebot gemeldet. Oder Leslies magersüchtige Patientin Judy Attenbury hatte schon wieder ihr Abendessen ausgespuckt.
Auf dem Band befand sich nur eine einzige Nachricht.
»Hallo, Leslie, hier Joel. Ich hab’ mir am Nachmittag freigenommen und war mit Bobby zum Ballspielen, deshalb mache ich jetzt ein paar Überstunden. Ruf mich an, dann können wir einen Happen essen gehen, sobald ich fertig bin. Ich liebe dich. Bis gleich.«
Leslie lächelte. Das sah Joel ähnlich. Bobby war ein schwarzer Junge aus den Ghettos, für den Joel im Rahmen des Sozialprogramms ›Big Brother‹ die Rolle des großen Bruders übernommen hatte. Er verbrachte viel Zeit mit dem Jungen und nahm aufrichtig Anteil an dessen Leben. Leslie fragte sich, was ihr Freund wohl zu Eileen und deren Poltergeist sagen würde, und wünschte sich, sie könnte Joel davon erzählen. Doch was bei einer Sitzung vor sich ging, fiel unter die Schweigepflicht und war fast so vertraulich wie das Beichtgeheimnis. Außerdem – was hätte Joel ihr als Anwalt raten können? Man konnte einen Poltergeist schwerlich vor Gericht zerren und ihm eine Verwarnung verpassen oder ihn per einstweiliger Verfügung auffordern, die öffentliche Ordnung zu wahren.
Leslie wählte die Nummer von Joels Büro. Es klingelte zweimal, dann meldete er sich. Er schien im Streß zu sein und war entsprechend kurz angebunden.
»Kanzlei Manchester, Arnes, Carmody und Beckenham.«
»Ich bin’s. Leslie.«
»Les!« Mit einem Mal klang Joels Stimme herzlich und liebevoll. »Ich hatte gehofft, daß du anrufst. Bist du startklar? Dann hole ich dich in zehn Minuten ab.«
Sie lachte. »Wohin fahren wir?«
»Zum Tanzen ins Claremont. Wir haben was zu feiern. Zieh dir was Schickes an. Der Richter hat den Hanrahan-Fall abgewiesen. Die Beweise reichen nicht für eine Anklageerhebung.«
»Das ist ja phantastisch, Liebling!« Leslie wußte, daß Joel lange und hart an diesem Fall gearbeitet hatte, wenngleich kein allzu hohes Honorar zu ernten war. Doch für Joel stellte dieses Ergebnis einen persönlichen Sieg dar. »Aber …«
»Aber was?«
»Können wir das Feiern auf ein andermal vertagen? Ich hatte einen schweren Tag, und morgen wird’s auch nicht leichter. Am liebsten würde ich irgendwo in Ruhe einen Happen essen und dann früh zu Bett gehen.« Zumal das Essen im Claremont zwar ausgezeichnet, aber sündhaft teuer war.
»In Ordnung. Dann gehen wir in dieses kleine griechische Lokal an der College Avenue, das du so gern hast«, meinte Joel. »Aber wenn du zu müde bist, könnte ich auch etwas vom Schnellimbiß holen und zu dir nach Hause kommen.«
Das mochte sie so an Joel. Er respektierte ihre Wünsche und war bereit, ihr zuliebe von einem Moment zum anderen auf etwas zu verzichten, auf das er sich sehr gefreut hatte.
»Nein, laß nur. Wir gehen zum Griechen. Und die Feier holen wir nach. Großes Ehrenwort.«
»Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Einverstanden?«
»Prima.«
In bester Laune rannte Leslie die Treppe hinauf und zog ihren Blazer und die nüchterne Bluse aus. Sie entschied sich für einen frischen Seidendruck in Himbeertönen, der ihren dunklen Augen schmeichelte, und bürstete sich rasch die kurzen, dunklen Locken durch.
Hätte sie an schicksalhafte Fügungen geglaubt, wäre sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß sie Sacramento nur verlassen hatte, um Joel Beckenham zu begegnen. Er war
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