Die Hüterin des Evangeliums
Johannes daher weismachen wollte, Wolfgang als seinen Vater zu betrachten.
»Ich habe es ihm beigebracht«, erklärte Amalie prompt und strahlte Wolfgang mit der Miene eines Unschuldsengels an. »Was sollen denn die Leute denken, wenn du mit einer Fremdenals deiner Ehefrau nach Hause zurückkehrst und im Gepäck ein Kind hast, das dich Oheim nennt?«
»Weniger, als wenn Johannes mich als seinen Vater bezeichnet«, gab Wolfgang trocken zurück. Er strich dem Kleinen zärtlich über die Wange. »Ich wäre es sicher gerne, aber ich bin nicht einmal annähernd so klug, wie dein richtiger Papa es war. Der Vergleich ist nicht sonderlich schmeichelhaft für mich.«
Christiane fing seine Hand auf und drückte sie in stummer Dankbarkeit. Sie hatte nicht die Absicht, sich in die Auseinandersetzung zwischen ihrem Mann und dessen Schwägerin einzumischen. Zwei Frauen, die auf ihn einredeten, konnte Wolfgang sicher nur schwer ertragen, und sie wollte am Ende womöglich nicht diejenige sein, auf die sich sein Zorn senkte.
»Was redest du nur immer«, kicherte Amalie, die sich über Wolfgangs Bescheidenheit köstlich zu amüsieren schien. »Erzähle mir ... uns«, sie betonte das Personalpronomen, »lieber endlich von den Neuigkeiten. Mir scheint, die ganze Stadt läuft zusammen. Hört Ihr die Glocken und das Geschrei auf der Straße?«, wandte sie sich an Christiane.
Wolfgang reichte seiner Gattin das Flugblatt und nahm ihr den Kleinen ab. »Lies selbst«, forderte er sie auf. Die Spitze seiner Schwägerin hatte er in Anbetracht der Neuigkeit rasch wieder vergessen. Während er den vergnügt kreischenden Johannes auf seinen Armen durch die Luft wirbelte, erklärte er: »Der Kaiser verzichtet auf eine einheitliche christliche Kirche, den Kurfürsten und Fürsten obliegt künftig die Religionsfreiheit, und ihre Untertanen können wählen, ob sie im Glauben ihres Landesherrn leben oder auswandern wollen, in den Reichsstädten dürfen weiterhin Bürger beider Konfessionen leben, und allerorten wird die päpstliche Gerichtsbarkeit gegen Protestanten aufgehoben ... Es ist sicher eine Kompromisslösung, aber sie bedeutet Frieden. Dauerhaften Frieden.«
»Damit hatte wohl niemand mehr gerechnet«, murmelte Christiane beeindruckt.
»Tatsächlich wurde eher eine Vertagung als eine Einigung erwartet«, stimmte Wolfgang zu und stellte Johannes auf den Boden. Der Kleine hielt sich an den Stiefelaufschlägen fest und betrachtete interessiert den Schaft von Wolfgangs Degen. »Niemand glaubte mehr daran, dass der Kaiser seine Zustimmung zur Glaubensfrage geben würde.«
Christiane blickte auf das Flugblatt, aber sie las es nicht. Sie würde noch ausreichend Gelegenheit bekommen, den Text des Reichsabschieds vom 25. September zu studieren. Niemand verbot ihr mehr die Lektüre der Texte, die sie interessierten. Die gedruckten Buchstaben auf dem Flugblatt verschwammen vor ihren Augen.
Frieden.
Das Wort erfüllte ihr Gehirn, sie ließ es auf der Zunge zergehen wie einen Löffel dicker, süßer Sahne. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch. Würde das Kind, das in ihr wuchs, tatsächlich niemals einen Krieg erleben? Würde Johannes lernen, dass man Waffen nur zur körperlichen Ertüchtigung trug und nicht zu sinnlosem Gemetzel?
Sie dachte an die Fälschungen, die sie gemeinsam mit Wolfgang und Ditmold in ihrem Küchenofen in Augsburg verbrannt hatte. Vielleicht war Sebastian nicht umsonst gestorben. Die Tatsache, dass er sich Imhoffs Anliegen schließlich verweigert und dem fremden Verleger in Frankfurt anvertraut hatte, war sein Todesurteil gewesen; möglicherweise hatte er damit aber den Religionsfrieden gerettet – ebenso wie Severin, der die Texte in seinem Keller versteckt hatte und der am Ende nichts mehr mit der Erpressung hatte zu tun haben wollen, was ihn ebenfalls das Leben gekostet hatte.
Wolfgang schien ihren Gedanken gefolgt zu sein, denn er nahm sie sanft am Arm und sagte: »Es lohnt sich niemals, dassein Mensch stirbt. Für den Frieden ergibt es jedoch ein wenig Sinn. Wenn Johannes alt genug ist, werde ich ihm erzählen, dass sein Vater ein großartiger Mann war.«
Zufällig blickte Christiane zu Amalie auf. In den Augen der anderen lag deutliche Abneigung. Natürlich hatte Amalie die zärtliche Geste gesehen, und sie wusste, dass sie von einem Geheimnis ausgeschlossen war, das Christiane mit Wolfgang teilte. Die Andeutung weckte wohl, wie andere Bemerkungen des Ehepaares auch, ihre Neugier, aber ihre Fragen
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