Die Hüterin des Schattenbergs
Prolog
E s muss ein Ende haben!
Es muss …!
Orekh ballte die Fäuste. So lange hatte er geforscht, so lange probiert. So viele Formeln hatte er erstellt und wieder verworfen, bis er in der vergangenen Nacht endlich gefunden hatte, wonach er all die Jahre wie besessen gesucht hatte: eine Magie, die das Grauen mit einem Schlag beenden würde.
Sein Haar war weiß geworden. Die schlaflosen Nächte hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Fehlschläge und Enttäuschungen hatten sein Rückgrat gebeugt. A ber er hatte nicht aufgegeben. Und nun war er am Ziel. Nur ein winziger Schritt fehlte noch, um eine Magie freizusetzen, die größer und gewaltiger sein würde, als alles, was die Kaste der Magier bisher hatte hervorbringen können. Eine Magie, die mit einem Schlag den Hass beenden würde, der seine Heimat wie ein schleichendes Gift zerstörte. Eine Magie, die den seit Generationen verfeindeten V ölkern der Ursketen und Selemiten endlich Frieden bringen würde.
Frieden.
Ein vergessenes W ort in Zeiten blutigen Mordens.
Frieden.
Keine W illkür mehr, keine Sklaverei, kein Elend, keine Folter und kein A bschlachten. Die Menschen würden es ihm ewig danken.
Und doch zögerte Orekh.
Nicht, weil er noch Zweifel in seinem Herzen trug. Er zögerte, weil er sich den Folgen seines Handelns bewusst war.
Hunderte würden sterben – vielleicht sogar T ausende. Zu wenige derer, die er für seine Experimente ausgewählt hatte, waren noch am Leben. Zuerst waren alle gestorben, aber er hatte daraus gelernt, und am Ende waren nur noch einige der gewaltigen Macht des Zaubers erlegen oder dem Schwachsinn anheimgefallen.
Wohl schon zum hundertsten Mal ließ Orekh den Blick über den T isch schweifen, auf dem alles für den großen A ugenblick vorbereitet war. Gleich daneben erhob sich der gewaltige, mehr als doppelt mannshohe Zylinder aus Glas, in dem eine grünliche Flüssigkeit Blasen schlug. Er nahm fast die Hälfte des großen Laboratoriums ein, in dem Orekh seit vielen Jahren forschte. Dieses Gebräu zu erschafften, hatte ihn mehr als zehn Jahre seines Lebens gekostet. Es war das Herzstück seiner Magie.
Auf dem T isch, fein säuberlich in ein dunkles T uch eingeschlagen, um es vor Licht zu schützen, lag das magische A rtefakt, das den Prozess der T rennung unumkehrbar in Gang setzen würde. Sobald Orekh es in die grünliche Flüssigkeit gegeben und die Formel der Macht gesprochen hatte, würde sich die Magie entfalten und erst haltmachen, wenn sie jede menschliche Seele in Orekhs Heimat von dem Bösen befreit hatte.
Jede Seele? Nein. Orekh schüttelte den Kopf. Er war von Natur aus vorsichtig. W enn nur eine W inzigkeit fehlging, bedurfte es W issen und W eisheit, um Schlimmeres zu verhindern, und so hatte er beschlossen, neben sich selbst auch die Kaste der Magier vor der Macht des Zaubers zu schützen. Keiner der Magier, die er am frühen Morgen zu sich rief, hatte geahnt, wozu der W ein wirklich diente, den er sie hatte trinken lassen. Sie waren verwundert gewesen, aber keiner hatte den W ein abgelehnt und so waren nun alle, die er auserkoren hatte, vor der Macht der Magie geschützt.
Die Menschen hingegen, Ursketen wie Selemiten, waren der Magie schutzlos ausgeliefert. Und das war gut so. W er überlebte – und das wäre zweifellos die Mehrheit – würde fortan weder Hass noch Neid oder Missgunst verspüren. Ursketen und Selemiten würden einträchtig zusammenleben, und niemals wieder würde auch nur einer von ihnen Opfer des uralten und tief verwurzelten Streits werden, dessen Ursprung schon so weit zurücklag, dass sich niemand mehr daran erinnern konnte.
»Nun mach schon. Seit wann hast du Skrupel, alter Mann?«, murmelte Orekh vor sich hin. In den Jahren des Forschens und der Einsamkeit war es ihm zur Gewohnheit geworden, mit sich selbst zu reden. »Es herrscht Krieg. In einem Jahr sterben hier mehr Menschen als der Zauber Opfer fordern wird. Ursketen und Selemiten werden nicht aufhören, sich niederzumetzeln, bis eines der V ölker ausgerottet ist. Zu viel ist geschehen. Der Hass sitzt tief. Er wird immer wieder aufflammen. Die Magie ist die einzige Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden.«
»Ja, das ist sie wohl.« Orekh nickte zustimmend. Es war müßig, noch einmal all das zu überdenken, was er bereits gegeneinander abgewogen hatte. Sein Entschluss stand fest.
Es muss ein Ende haben!
Jetzt!
Mit einer feierlichen Geste trat er vor den T isch und nahm den Gegenstand zur Hand, den er am A bend
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