Die Hüterin des Schattenbergs
Schmetterlings im Nebelgrau abzeichnete. Im ersten A ugenblick glaubte Jemina, dass ihre Sinne ihr einen Streich gespielt hatten, aber Efta steuerte die Barke direkt auf den hellen Punkt zu.
Der Lichtschein wurde rasch größer und entpuppte sich bald als ein Lagerfeuer, das am Ufer entfacht worden war.
»Wir sind da!« Eftas W orte räumten auch die letzten Zweifel aus. Die Fahrt durch den Nebel hatte endlich ein Ende. V or ihnen auf einer kleinen W iese war ein Lagerplatz zu erkennen. Offensichtlich waren sie nicht die Ersten, die ihn erreichten. A ls die Barke mit einem sanften Zischen auf das sandige Ufer glitt, erhoben sich vierzehn Gestalten, die um das Feuer gesessen hatten und kamen auf sie zu, um sie zu empfangen.
Jemina war es unangenehm, von all den Menschen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, voller W ärme und Zuneigung begrüßt zu werden. Ein jeder umarmte sie wie eine lang vermisste Freundin, stellte sich vor und hauchte ihr Küsse auf beide W angen. So überrumpelt, hatte Jemina gar keine andere W ahl, als die Gesten höflich zu erwidern, auch wenn sie sich die vielen Namen kaum merken und im Dunkeln nur schwer unterscheiden konnte, wer ein Hüter oder ein Elev war.
Wenig später fand sie sich, mit einem Becher heißen W eins in der einen und einem duftenden Stück Kräuterbrot in der anderen Hand, am Feuer wieder und versuchte, den halblaut geführten Gesprächen zu folgen, deren W orte sie umschwirrten wie ein Bienenschwarm. Manchmal richtete jemand das W ort an sie. Dann lächelte sie und antwortete höflich, vermied es aber, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen.
Obwohl die Zahl der V ersammelten nicht wirklich groß war, spürte Jemina, wie sehr sie in den Jahren, die sie abgeschieden in Eftas Hütte verbracht hatte, zu einem Kind der Stille geworden war. Zwar kamen die Menschen auch zu Efta, in der Hoffnung, dass die Hüterin ihre Krankheiten heilen oder ihnen die Zukunft vorhersagen konnte oder ihnen den Segen für einen lang gehegten W unsch geben würde. A ber es waren nie mehr als eine Handvoll und sie sprachen vor Ehrfurcht meist wenig.
Efta und Jemina gingen nur selten in die Dörfer. Die Natur rings um ihre Hütte bot ihnen alles, was sie zum Leben brauchten. Ein paar Hühner versorgten sie mit frischen Eiern und zwei Ziegen lieferten etwas Milch. Nur zur Sommersonnenwende, wenn an den Neugeborenen in den umliegenden Dörfern das Ritual der Reinheit vollzogen werden musste, das die Kinder von allem Bösen befreite, verließen Efta und Jemina die Hütte für ein paar T age.
In den Dörfern ging es laut und hektisch zu; das Ritual begann zwar mit einer ruhigen und feierlichen Zeremonie, endete aber mit einem ausgelassenen Fest zu Ehren der gereinigten Kinder, sobald diese das Zeichen der Reinheit, ein weißes Mal in Form einer Sichel, auf dem Oberarm trugen. Jemina war froh, dass sie bei diesen A nlässen nicht im Mittelpunkt stand. So hatte sie meist eine Möglichkeit gefunden, dem T rubel zu entgehen.
Hier am Lagerfeuer war das nicht möglich. Ihr zu Ehren hatte sich der Zirkel zusammengefunden und die anderen Hüter hatten viele Fragen, denn immerhin würde Jemina später einmal Eftas Platz einnehmen. Da Jemina sich nicht gerade gesprächig gab, wandten sie sich an Efta, die neben ihr saß, um von ihr alles über die angehende Novizin zu erfahren.
Als sich das Gespräch endlich anderen Dingen zuwandte, atmete Jemina auf. Offenbar war in den vergangenen zehn Sommern so viel geschehen, dass einige der Hüter gar nicht wussten, wo sie mit dem Erzählen beginnen sollten. Mascha, die Älteste unter ihnen, berichtete vom tragischen T od ihres Novizen und stellte Efta ihren neuen Elev vor, der Jemina gegenübersaß. Jordi war ein blasser Junge von zehn Jahren. Seine lockigen roten Haare und das sommersprossige Gesicht wirkten im Feuerschein frech und fröhlich. Er lächelte schüchtern, wich aber nicht von Maschas Seite, als würde auch er sich in der großen Runde unwohl fühlen.
Burcan, ein Hüter mit polternder, dunkler Stimme, wusste zu berichten, dass es in den Dörfern seiner Heimat ungewöhnlich viele Kinder gab, bei denen das Ritual der Reinheit fehlschlug. Fast achtzig Kinder hatte er deshalb in den vergangenen Jahren an die Magier übergeben müssen. Denn diese waren die Einzigen, die das Böse in den Kindern würden beherrschen können.
Der A bend schritt voran. Das Feuer brannte nieder und die Schatten vertieften sich. Jemina war überrascht, wie
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