Die Huren des Apothekers
der baumelnden Mumie vorbei. Nacheinander reihten sich gleiche Gewölbebögen auf, in denen weitere Mumien hingen. Von ihrem Standpunkt aus erkannte Luzia drei, als sie weiterging mindestens noch zehn. Sie spähte in den Verschlag an ihrer rechten Seite. Noch mehr Mumien. Diesmal hingen sie nicht an Haken, sondern lagen aufgestapelt wie Stoffballen an der Wand. Die Bretter umschlossen einen Raum von der Größe eines Kuhstalls und die Mumien erreichten übereinander die obere Begrenzung. Das mussten mindestens ein Dutzend sein oder noch mehr.
Wenn sie tatsächlich so kostbar waren, wie der Apotheker behauptete, musste hier ein Vermögen lagern! Andererseits konnten sie nicht so wertvoll sein, wenn alleine er so viele besaß. Die Karawane hatte nur eine einzige mitgebracht. Henslin beherrschte nicht als einziger Apotheker die Kunst, aus Mumien Pulver zu reiben. Kurz schwindelte es Luzia, als sie sich die unendliche Menge an Pharaonenleichen in den Kellern aller Apotheker vorstellte, wenn jeder so viele besaß.
Noch etwas fiel ihr auf. Lukas hatte von dem einförmigen Aussehen der Menschen im Orient erzählt: dass alle dunkle Haut und schwarze Haare besäßen. Hier sah sie anderes. Mal blonde, mal schwarze oder brünette Haare, öfters auch rote, mal gekraust, mal glatt, Zöpfe, ein wirrer Haarschopf oder sogar mit Schleifen hochgebundene Locken. Wie konnte das sein? Ob etwa … Luzia wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Die Vorstellung, dass der Apotheker Menschen aus der Antike zerstückelte, war schon schrecklich genug. Er konnte doch unmöglich … Nein. Bestimmt nicht.
Einen Verschlag weiter bestätigten sich Luzias Befürchtungen: Auf Regalen an der Wand steckten all die Hände, die den Mumien fehlten, und wohl noch viel mehr. Aber es lagen dort nicht etwa die dürren Krallen, wie sie eine im Raum oben gefunden hatte, sondern säuberlich präparierte Leichenhände. Also doch schwarze Magie!
Ein einziges Mal hatte Luzia einem Meister dieser Kunst bei seinem Gewerbe zugesehen, wobei er ihr nur einen winzigen Bruchteil der Prozedur eröffnet hatte. Wesentlich für die Wirkung des Talismans war die Herkunft: Man nahm die Hand eines Diebes. Auf dem Richtsberg hatte jemand dem Gehenkten die Hände aus genau diesem Grund abgeschnitten – Jerg hatte sie gekauft, um sie dem Apotheker zu bringen, das war jetzt gewiss.
Aus der Hand löste man sorgfältig die Knochen und stopfte sie mit einer geheimen Mischung aus, deren Hauptbestandteil das Fett eines ungetauften Säuglings darstellte. Nach einer langen Prozedur entstand ein Wachs, durch das man einen Docht zog.
Eine Bande von Einbrechern, denen sich Luzia für kurze Zeit angeschlossen hatte, als sie in dem Gewerbe noch unerfahren war, benutzte diese Talismane bei besonderen Gelegenheiten. Man stellte die Leichenhand mitten in das Haus, das man plündern wollte, und zündete die fünf Dochte an, angefangen mit dem Daumen. Die aufsteigenden Dünste bewirkten, dass jeder Bewohner des Hauses tief und fest schlief, nicht durch die Einbrecher gestört wurde und am nächsten Morgen erst erwachte, wenn das Haus von sämtlichen Wertgegenständen entblößt war.
Zur Herstellung der Leichenhand gehörte natürlich die Beschwörung des Bösen, das Opfer an diverse Dämonen und eine gehörige Portion der schwarzen Kunst, die Luzia nie zu erlernen gedachte. Auf einmal überfiel sie wie ein herabkrachender Balken die Erkenntnis, mit wem sie sich da anlegen wollte. Der Apotheker war ein Hexenmeister! Er beherrschte die Magie und betete den Gottseibeiuns an!
Luzia fühlte das Blut aus ihrem Gesicht weichen, ihre Knie begannen zu zittern und sie taumelte gegen die Bretterwand. Das leise Quietschen des Holzes erinnerte sie an das Kichern ihrer Großmutter und sofort fühlte sie die Panik von sich weichen. Teufel brauchen wir nicht, hatte die alte Frau gesagt, schlecht sind die Menschen von ganz allein. Wie der warme Schein ihres Herdfeuers erwärmte Luzias Seele das zahnlose Lächeln der Ahme. Mit Verachtung hatte sie immer auf den eifersüchtigen Gott gesehen und die Priester, die den alleinigen Glauben an ihn in alle hineinprügelten, die bisher auch gut ohne ihn gelebt hatten. Das sei böse, nicht die Allmutter, die ohne Ansicht der Person für das Gleichgewicht der Natur stehe, aus deren Handeln immer etwas Gutes erwachse, auch wenn es für den Einzelnen manchmal unverständlich sei. Sie hatte Luzia gelehrt, aus dem Schicksal das Beste zu machen, niemanden um eine
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