Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
respektvoll vor meiner Kammer verweilten und dann wieder in der Ferne verschwanden.
Mir wurde klar, alle Bücher in sämtlichen Alkoven waren die Werke von ›Mister John Keats, einsfünfundsiebzig groß‹, wie ich einmal geschrieben hatte – John Keats, der besessene Dichter, der darum gebeten hatte, daß sein Grabstein keinen Namen tragen sollte, nur diese Inschrift:
HIER LIEGT EINER,
DESSEN NAME IN WASSER GESCHRIEBEN WAR.
Ich stand nicht auf, um mir die Bücher anzusehen oder darin zu lesen. Es war nicht nötig.
Allein in der Stille und dem Geruch von Leder und Papier der Bibliothek, allein in meinem Sanktuarium von Selbst und Nicht-Selbst, machte ich die Augen zu. Ich schlief nicht. Ich träumte.
33
Das Dateiebenenanalogon von Brawne Lamia und ihr Liebhaber, die Persönlichkeitsrekonstruktion, landen auf der Oberfläche der Megasphäre, wie zwei Klippentaucher die Oberfläche des aufgewühlten Meeres treffen. Ein quasielektrischer Schock, das Gefühl, als hätten sie den Widerstand einer Membran überwunden, und dann sind sie drinnen, die Sterne sind fort, und Brawne reißt die Augen auf, als sie ein Informationsambiente sieht, das unendlich komplexer ist als jede Datensphäre. Die Datensphären, die von menschlichen Operateuren bereist werden, werden häufig mit komplexen Städten aus Informationen verglichen: Türme von Firmen- und Regierungsdaten, Highways der Datenverarbeitung, breite Boulevards der Dateiebeneninteraktion, U-Bahnen umgeleiteten Verkehrs, hohe Mauern aus Sicherheitseis [engl. ICE = Intrusion Counterattack Equipment, d.h. Geräte, die ein unbefugtes Eindringen in Datenspeicher verhindern, Datensicherung – Anm. der Red.] , auf denen Mikrophagenwächter patrouillieren und das sichtbare Analogon eines jeden Mikrowellenstroms und Gegenstroms, von denen eine Stadt lebt.
Hier ist mehr. Viel mehr.
Die üblichen Stadtanalogons der Datensphäre sind vorhanden, aber winzig, so winzig – der Maßstab der Megasphäre macht sie so winzig, wie richtige Städte auf einer Welt aus dem Orbit aussehen würden.
Die Megasphäre, sieht Brawne, ist so lebendig und interaktiv wie die Biosphäre jeder Klasse-Fünf-Welt: Wälder graugrüner Datenbäume wachsen und gedeihen und bilden vor ihren Augen neue Wurzeln und Zweige und Schößlinge aus; unter dem Wald gedeihen ganze Mikro-Ökologien von Datenfluß- und Subroutine-KIs, erblühen und sterben, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben; unter der wogenden, flüssigen Bodensubstanz der Matrix arbeitet ein emsiges unterirdisches Leben von Datenmaulwürfen, Kommunikationswürmern, Reprogrammierungsbakterien, Datenbaumwurzeln und Endlosschleifensamen, während oben, in und zwischen und unter den verschlungenen Wäldern aus Tatsachen und Wechselwirkungen Analogons von Raubtieren und Beute ihre geheimnisvollen Pflichten erfüllen, niederstoßen und laufen, klettern und hüpfen und teilweise auch frei durch die großen Zwischenräume zwischen Zweigsynapsen und Neuronenblättern sausen.
So schnell die Vergleiche das, was Brawne sieht, mit Sinn erfüllen, entschwinden die Bilder wieder und hinterlassen lediglich die überwältigende Analogrealität der Megasphäre – ein gigantischer innerer Ozean aus Licht und Lärm und verzweigten Verbindungen, dazwischen die kreisenden Wirbelwinde des KI-Bewußtseins und die ominösen Schwarzen Löcher von Farcasterverbindungen. Brawne spürt, wie Schwindelgefühle sie überkommen, und sie klammert sich so fest an Johnnys Hand wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring.
– Schon gut, sendet Johnny, Ich laß dich nicht los. Bleib bei mir.
– Wohin gehen wir?
– Jemanden suchen, den ich vergessen hatte.
– ??????
– Meinen ... Vater ...
Brawne klammert sich fest, als sie und Johnny tiefer in die amorphen Weiten zu gleiten scheinen. Sie betreten einen fließenden scharlachroten Boulevard versiegelter Datenträger, und sie stellt sich vor, daß ein rotes Blutkörperchen auf dem Weg durch ein prallvolles Blutgefäß etwas Ähnliches sieht.
Johnny scheint den Weg zu kennen; zweimal verlassen sie die Hauptverkehrsader und folgen einer kleineren Abzweigung, und Johnny muß häufig zwischen gegabelten Straßen wählen. Das bewerkstelligt er mühelos und manövriert ihre Körperanalogons zwischen Datenträgern so groß wie Raumschiffe hindurch. Brawne versucht, wieder den Biosphärenvergleich zu sehen, aber hier, zwischen den vielfach verzweigten Ästen, kann sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.
Sie
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