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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gefolgt. Später, nachdem er tatsächlich getötet worden war, abgesehen von der in der Schrön-Schleife gespeicherten Persönlichkeit, hatte sie diesen Raum besucht. Sie hatte den anderen von zwei Gedichten erzählt, die der erste Cybrid in seinem anhaltenden Bemühen, den Grund für seine Existenz herauszufinden – und für sein Sterben – täglich besucht hatte.
    Diese beiden Originalmanuskripte befanden sich in dem Schaukasten. Beim ersten handelte es sich – fand ich – um ein reichlich überzuckertes Liebesgedicht mit der Anfangszeile ›Der Tag und seine Süße sind dahin!‹ Das zweite war besser, wenn auch mit der romantischen Morbidität eines zu romantischen und morbiden Zeitalters behaftet:
     
    This living hand, now warm and capable
    Of earnest grasping, would, if it were cold
    And in the icy silence of the tomb,
    So haunt thy days and chill the dreaming nights
    That you wouldst wish thine own heart dry of blood
    So in my veins red life might stream again,
    And thou be conscience-calm'd – see here it is –
    I hold it towards you
     
    Die warme Hand, die noch voll Leben ist
    Und zupackt mit Begier, die würde dich,
    Lag sie erstarrt in eisig stummer Gruft,
    So jagen tags und so durchkälten nachts,
    Daß du dein eigen Herzblut gäbst für sie,
    Damit es rot durch meine Adern rauscht,
    Und dir war wieder leicht zumut – hier, schau:
    Ich halte sie dir hin!
     
    Aus: John Keats: Gedichte, übersetzt von Heinz Piontek, Stuttgart 1968, Reclams Universalbibliothek 8581, S. 7
     
    Brawne Lamia hatte das fast als persönliche Botschaft von ihrem toten Liebhaber, dem Vater ihres ungeborenen Kindes, angesehen. Ich betrachtete das Pergament und senkte den Kopf, bis mein Atem sacht das Glas beschlug.
    Es war keine Botschaft durch die Zeiten für Brawne, nicht einmal eine zeitgenössische Klage für Fanny, die einzige und teuerste Zierde meines Herzens. Ich betrachtete die verblaßten Worte – die sorgfältig ausgeführte Handschrift, die Buchstaben trotz Abgründen von Zeit und Sprachentwicklung noch deutlich lesbar – und erinnerte mich, wie ich sie im Dezember 1819 geschrieben und dies Fragment auf die Seite eines satirischen ›Märchens‹ gekritzelt hatte, das ich gerade begonnen hatte – The Cap and Bells, or, The jealousies. Ein schrecklich alberner Unsinn, den ich zurecht nach dem kurzen Vergnügen, das er mir bereitete, aufgegeben hatte.
    Das Fragment ›Die warme Hand‹ war einer jener poetischen Rhythmen gewesen, die wie ein nicht aufgelöster Akkord im Geiste hallen und einen treiben, ihn geschrieben auf Papier zu sehen. Er war wiederum das Echo eines früheren, unbefriedigenden Verses gewesen ... des achtzehnten, glaube ich, in meinem zweiten Versuch, die Geschichte vom Fall des Sonnengottes Hyperion zu erzählen. Ich weiß noch, daß die erste Fassung – die zweifellos noch gedruckt vorliegt, wo immer meine literarischen Gebeine auch zur Schau gestellt werden wie die mumifizierten Überbleibsel eines ungewollten Heiligen in Beton und Glas unter dem Altar der Literatur – diese erste Fassung hatte gelautet:
     
    ... Who alive can say,
    »Thou art no poet; mayst not tell the dream«?
    Since every man whose soul is not a clod
    Hath visions, and would speak, if he had loved
    And been well nurtured in his mother tongue.
    Wether the dream now purposed to rehearse
    Be Poet's or Fanatic's will be known
    When this warm scribe my hand is in the grave
     
    Welch Lebender kann sagen:
    »Du bist kein Dichter, darfst den Traum nicht schildern?«
    Hat jeder Mensch doch, dessen Seel' nicht stumpf
    Visionen, die er schreiben würde,
    War er in seiner Muttersprach bewandert.
    Ob dieser Traum, des Anbeginn nun folgt,
    Von Dichter oder Besessenem erdacht, wird erst,
    Ist diese warme Hand im Grab, ersichtlich sein.
     
    Mir gefiel die gekritzelte Version mit ihrer gequälten und quälenden Atmosphäre, und ich hätte sie durch ›Ist diese warme Hand im Grab‹ ersetzt, auch wenn das bedeutet hätte, ein wenig zu revidieren und der ohnehin schon zu langen Einleitung des ersten Gesangs noch vierzehn Zeilen hinzuzufügen ...
    Ich taumelte zum Sessel zurück, setzte mich und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich schluchzte. Warum, wußte ich nicht. Ich konnte gar nicht mehr aufhören.
    Eine ganze Weile, nachdem die Tränen versiegt waren, saß ich noch da, dachte nach und schwelgte in Erinnerungen. Einmal, es hätten Stunden vergangen sein können, hörte ich das Echo von Schritten in weiter Ferne, die

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