Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
tapfere Bemerkung wurde durch das Zittern ihrer Stimme ruiniert.
»Habt Vertrauen«, sagte eine Stimme unter ihm, worauf Brawne zum Boden hinuntersah.
Die junge Frau, in der Brawne in Kassads Grab Moneta erkannt hatte, stand ganz unten.
»Hilfe!« rief Brawne.
»Habt Vertrauen«, sagte Moneta und verschwand. Das Shrike hatte sich nicht ablenken lassen. Es ließ die Hände sinken und kam näher, als würde es auf solidem Stein und nicht auf Luft gehen.
»Nein«, flüsterte Brawne.
»Vom Regen in die Traufe«, keuchte Martin Silenus.
»Seien Sie still!« sagte Brawne. Dann, wie zu sich selbst: »Habt Vertrauen zu was? Zu wem?«
»Vertrauen, daß uns das verdammte Shrike umbringt oder uns beide an seinem verdammten Baum aufspießt«, stöhnte Silenus. Er schaffte es, sich soweit zu bewegen, daß er Brawnes Arm ergreifen konnte. »Lieber tot als wieder an dem Baum, Brawne.«
Brawne drückte kurz seine Hand und stellte sich dem Shrike über fünf Meter Luft hinweg entgegen.
Vertrauen? Brawne streckte den Fuß aus, tastete in der Leere herum, schloß für einen Moment die Augen und öffnete sie, als ihr Fuß eine solide Stufe zu berühren schien.
Nichts als Luft befand sich unter ihrem Fuß.
Vertrauen? Brawne verlagerte das Gewicht auf den vorderen Fuß, machte einen Schritt und wankte einen Moment, ehe sie den anderen Fuß nachzog.
Sie und das Shrike sahen einander zehn Meter über dem Steinboden an. Die Kreatur schien zu grinsen, während sie die Arme ausbreitete. Der Panzer leuchtete stumpf im trüben Licht. Die roten Augen strahlten hell.
Vertrauen? Brawne verspürte den Adrenalinstoß, als sie auf den unsichtbaren Stufen immer höher ging und in die Umarmung des Shrike trat.
Sie spürte, wie Fingerklingen durch Stoff und Haut schnitten, als das Ding sie in die Arme nahm und an sich zog, zu der gekrümmten Klinge, die ihm aus der Brust wuchs, zu den offenen Kiefern und Reihen von Stahlzähnen. Aber Brawne, die auf solider Luft stand, beugte sich vor, legte die unversehrte Hand flach auf die Brust des Shrike und spürte die Kälte des Panzers, aber auch einen Sog von Wärme, als Energie von ihr abfloß, aus ihr floß, durch sie hindurchfloß.
Die Klingen hielten inne, bevor sie mehr als Haut schnitten. Das Shrike erstarrte, als wäre der Strudel von Zeitenergie um sie herum zu einem Klumpen Bernstein geworden.
Brawne legte dem Ding die Hand auf die breite Brust und drückte.
Das Shrike erstarrte vollkommen, wurde spröde, der Glanz von Metall wich dem transparenten Funkeln von Kristall, dem Widerschein von Glas.
Brawne stand auf Luft in den Armen einer drei Meter hohen Glasskulptur des Shrike. In der Brust, wo das Herz sein mochte, flatterte etwas, das wie ein großer, schwarzer Falter aussah, und schlug rußige Schwingen gegen Glas.
Brawne holte tief Luft und drückte noch einmal. Das Shrike rutschte rückwärts auf der unsichtbaren Plattform, die sie sich mit ihm teilte, wankte und fiel. Brawne duckte sich unter den umschlungenen Armen hindurch, hörte und spürte, wie ihre Jacke zerriß, als scharfe Fingerklingen sich in dem Stoff verfingen und ihn zerrissen, als das Ding wankte, und dann stolperte sie selbst und ruderte mit dem unversehrten Arm, damit sie das Gleichgewicht nicht verlor, während das gläserne Shrike eine Umdrehung in der Luft ausführte, auf den Boden prallte und in tausend Scherben zerschellte.
Brawne beschrieb eine Pirouette, fiel auf dem unsichtbaren Steg auf die Knie und kroch zu Martin Silenus zurück.
Auf dem letzten halben Meter verließ sie ihr Selbstvertrauen, worauf die unsichtbare Stütze einfach verschwand und sie stürzte und sich den Knöchel verstauchte, als sie auf den Steinsims fiel und nur deshalb nicht abstürzte, weil es ihr rechtzeitig gelang, sich an Silenus' Knie festzuhalten.
Sie fluchte wegen der Schmerzen in der Schulter, dem gebrochenen Handgelenk, dem verstauchten Knöchel und den zerschnittenen Handflächen und Knien, während sie sich neben den Dichter hinaufzog.
»Seit ich weg bin, sind offenbar einige reichlich merkwürdige Dinge passiert«, sagte Martin Silenus heiser. »Können wir jetzt gehen, oder haben Sie vor, als Zugabe auch noch auf dem Wasser zu wandeln?«
»Halten Sie den Mund«, sagte Brawne zitternd. Es hörte sich fast nach Zuneigung an.
Sie ruhte sich eine Weile aus, dann stellte sie fest, daß sie den immer noch schwachen Dichter am besten im Tragegriff die Stufen hinunter und über den mit Glassplittern übersäten Boden des
Weitere Kostenlose Bücher