Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Wechselwirkungskraft oder der Elektromagnetismus oder die Schwerkraft. Liebe war diese anderen Kräfte, wurde Sol deutlich. Die Bindende Leere, die Subquantenunmöglichkeit, die Informationen von Photon zu Photon übermittelte, war nicht mehr oder weniger als Liebe.
Aber konnte Liebe – simple, banale Liebe – das sogenannte anthropische Prinzip erklären, über das Wissenschaftler mehr als sieben Jahrhunderte und länger immer wieder den Kopf geschüttelt hatten – die fast unendliche Kette von Zufällen, die zu einem Universum geführt hatten, das genau die richtige Anzahl von Dimensionen besaß, genau die korrekte Anzahl an Elektronen, genau die präzisen Gesetze der Schwerkraft, genau das passende Alter der Sterne, genau die richtigen primitiven Biologien, welche die perfekten Viren hervorbrachten, die zur richtigen DNS wurden – kurz gesagt, eine Serie von Zufällen, die in ihrer Präzision und Korrektheit so absurd waren, daß sie jeglicher Logik trotzten, sich dem Verständnis entzogen und selbst einer religiösen Interpretation nicht zugänglich waren. Liebe?
Sieben Jahrhunderte lang hatten die Existenz von Universellen Vereinheitlichungstheorien und Hyperstring-Post-Quantenphysik und ein vom Core entworfenes Bild des Universums als in sich geschlossen und grenzenlos, ohne Urknallsingularitäten oder korrespondierende Endpunkte die Rolle Gottes weitgehend eliminiert – sei Er nun primitiv anthropomorph oder intellektuell Post-Einsteinisch –, und zwar selbst als Aufseher oder Formulierer von Naturgesetzen von Anbeginn der Schöpfung. Das moderne Universum, wie Maschinen und Menschen es begreifen gelernt hatten, brauchte keinen Schöpfer; duldete nicht einmal einen Schöpfer. Seine Regeln gestatteten sehr wenig Einmischung und keine größeren Revisionen. Es hatte keinen Anfang und kein Ende, abgesehen von Zyklen der Ausdehnung und Schrumpfung, die so regelmäßig und selbstreguliert erfolgten wie die Jahreszeiten auf der Alten Erde. Da war kein Platz für Liebe.
Es schien, als hätte Abraham sich erboten, seinen Sohn zu ermorden, um ein Phantom auf die Probe zu stellen.
Es schien, als hätte Sol seine sterbende Tochter als Reaktion auf nichts durch Hunderte von Lichtjahren und zahlreiche Härten gebracht.
Aber nun, da die Sphinx über ihm aufragte und die erste Andeutung von Sonnenlicht Hyperions Himmel bleichte, wurde Sol deutlich, daß er auf eine Kraft reagiert hatte, die grundsätzlicher und überzeugender war als der Terror des Shrike, die Herrschaft des Schmerzes. Wenn er recht hatte – was er nicht wußte, aber fühlte –, dann war die Liebe ebensosehr mit der Struktur des Universums verknüpft wie Schwerkraft und Materie/Antimaterie. Der Platz für eine Art Gott befand sich nicht im Netz zwischen den Mauern, noch in den Singularitätsritzen im Pflaster, noch irgendwo vor und jenseits der Sphäre aller Dinge – sondern in jedem Grundbaustein aller Dinge. Daß sich das Universum so entwickelte, wie es sich entwickelte. Daß gelernt wurde, wie die lernfähigen Komponenten des Universums lernten. Daß geliebt wurde, wie die Menschheit liebte.
Sol richtete sich auf die Knie auf, dann auf die Füße. Der Sturm der Zeitgezeiten schien ein wenig nachgelassen zu haben, und Sol überlegte sich, er könnte zum hundertsten Mal versuchen, Zugang zu dem Grab zu erlangen.
Immer noch strömte grelles Licht dort aus, wo das Shrike erschienen war, Sols Tochter genommen hatte und wieder verschwunden war. Aber jetzt verblaßten die Sterne, und der Himmel wurde von der Dämmerung erhellt.
Sol ging die Treppe hinauf.
Er erinnerte sich an die Zeit daheim auf Barnards Welt, als Rachel – sie war zehn – versucht hatte, auf die höchste Ulme der Stadt zu klettern und fünf Meter von der Spitze entfernt abgestürzt war. Sol war ins Med-Zentrum geeilt und hatte sein Kind mit einem Lungenriß, einem gebrochenen Bein, gebrochenen Rippen, einer Kieferfraktur und zahllosen Schnitt- und Schürfwunden in einem Tank voll Nährlösung gefunden. Sie hatte ihm zugelächelt, einen Daumen gehoben und durch den drahtgeschienten Kiefer gesagt: »Nächstesmal schaffe ich es!«
In jener Nacht saßen Sol und Sarai im Med-Zentrum, während Rachel schlief. Sie warteten auf den Morgen. Sol hatte ihr die ganze Nacht die Hand gehalten.
Jetzt wartete er wieder.
Zeitgezeiten vom offenen Eingang der Sphinx hielten Sol immer noch fern wie beharrliche Winde, aber er stemmte sich dagegen wie ein unverrückbarer Fels, stand fünf
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