Die Hyperion-Gesänge
haben.«
»Unser Freund hat recht«, sagte Sol Weintraub leise. »Wenn die Geschichten erzählt werden sollen, dann ist die Stunde nach dem Essen eine zivilisierte Zeit, sie zu erzählen.«
Pater Hoyt seufzte. »Einen Augenblick bitte«, sagte er und verließ die Speiseplattform.
Als mehrere Minuten verstrichen waren, sagte Brawne Lamia: »Glaubt ihr, er hat den Mut verloren?«
»Nein«, sagte Lenar Hoyt und trat aus der Dunkelheit der Holztreppe, die den Hauptzugang bildete. »Ich habe das hier gebraucht.« Er ließ zwei kleine, fleckige Notizbücher auf den Tisch fallen, während er sich setzte.
»Es gilt nicht, Geschichten aus einem Buch vorzulesen«, sagte Silenus. »Es sollen unsere eigenen Geschichten sein, Magus!«
»Verdammt, seien Sie still!«, rief Hoyt. Er strich sich mit einer Hand über das Gesicht und berührte die Brust. Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde dem Konsul klar, dass er einen ernstlich kranken Mann vor sich sah.
»Tut mir leid«, sagte Pater Hoyt. »Aber wenn ich meine … meine Geschichte erzählen soll, muss ich auch die Geschichte von jemand anderem erzählen. Diese Tagebücher gehören dem Mann, dessentwegen ich nach Hyperion gekommen war … und warum ich heute zurückkehre.« Er holte tief Luft.
Der Konsul berührte die Tagebücher. Sie waren schmutzig und angekohlt, als hätten sie ein Feuer überstanden. »Ihr Freund hat einen altmodischen Geschmack«, sagte er, »wenn er ein handgeschriebenes Tagebuch führt.«
»Ja«, sagte Hoyt. »Wenn Sie bereit sind, fange ich an.«
Die Gruppe am Tisch nickte. Unter der Speiseplattform trieb ein Kilometer Baumschiff mit dem starken Puls von etwas Lebendigem durch die kalte Nacht. Sol Weintraub hob das schlafende Kind aus dem Tragegurt und legte es behutsam auf eine gepolsterte Matte auf dem Boden neben seinem
Stuhl. Er holte sein Komlog heraus, stellte es neben die Matte und programmierte den Diskey auf weißes Rauschen. Das eine Woche alte Baby lag auf dem Bauch und schlief.
Der Konsul lehnte sich weit zurück und erblickte den blaugrünen Stern Hyperion, der größer zu werden schien, je länger er ihn betrachtete. Het Masteen zog die Kapuze nach vorne, bis nur noch Schatten sein Gesicht zeichneten. Sol Weintraub zündete eine Pfeife an. Andere ließen sich Kaffee nachschenken und lehnten sich auf den Stühlen zurück.
Martin Silenus schien der aufmerksamste und erwartungsvollste Zuhörer zu sein, als er sich nach vorne beugte und flüsterte:
»Er sprach: ›So soll denn nun das Spiel begonnen seyn,
Der Göttin Namen wollen wir es weihn!
Lasst reyten uns, und höret mit Bedacht!‹
Worauf wir uns dann schließlich aufgemacht;
Mit lautem Jubel draufhin er begann
Die Mär zu schreyn, die man nun hören kann.«
Die Geschichte des Priesters: »Der Mann, der zu Gott flehte«
»Manchmal trennt nur eine dünne Linie orthodoxen Glauben von Abtrünnigkeit«, sagte Pater Lenar Hoyt.
So begann die Geschichte des Priesters. Als der Konsul sie später in sein Komlog diktierte, erinnerte er sich ihrer als nahtloses Ganzes – ohne Pausen, die heisere Stimme, falsche Anfänge und die kleinen Ausschmückungen, die die zeitlosen Unzulänglichkeiten der menschlichen Sprache sind.
Lenar Hoyt war auf der katholischen Welt Pacem geboren,
dort aufgewachsen und erst vor Kurzem zum Priester geweiht worden, als er seine erste Berufung auf einen anderen Planeten erhielt: Man befahl ihm, den geachteten Jesuitenpater Paul Duré in sein stilles Exil auf der Kolonialwelt Hyperion zu begleiten.
In einer anderen Zeit wäre Pater Paul Duré sicherlich Bischof, möglicherweise sogar Papst geworden. Duré, groß, mager, asketisch, mit weißem Haar, dessen Ansatz über einer edlen Stirn begann, und Augen, die so sehr von der scharfen Klinge der Erfahrung gezeichnet waren, dass sie das Leid nicht verbergen konnten, war Anhänger von St. Teilhard wie auch Archäologe, Ethnologe und bedeutender jesuitischer Theologe. Ungeachtet des Niedergangs der katholischen Kirche, die zu einem halb vergessenen Kult geworden war, der aufgrund seiner Verschrobenheit und Isolation von der Mehrheit in der Hegemonie geduldet wurde, hatte die jesuitische Logik nichts von ihrer Schärfe verloren. Und auch Pater Duré hatte seine Überzeugung nicht verloren, dass die Heilige Katholische Apostolische Kirche auch weiterhin die letzte, beste Hoffnung der Menschheit auf Unsterblichkeit war.
Für den Knaben Lenar Hoyt war Pater Duré eine gottgleiche Gestalt gewesen, wenn er
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