Die Hyperion-Gesänge
Gewitterwolken scheinbar von unten an, sodass ein farbenfroher
Baldachin über den gesamten westlichen Rand der Welt aufgespannt wurde. Schneekappen und Gletscher auf der Westseite der Berge, die sich einen Kilometer oder höher über die Kabine erhoben, glühten noch. Die ersten helleren Sterne tauchten an der sich verdunkelnden Himmelskuppel auf.
Der Konsul wandte sich Brawne Lamia zu. »Warum erzählen Sie nicht jetzt Ihre Geschichte, M. Lamia? Wir werden später schlafen, bevor wir im Keep eintreffen.«
Lamia trank den letzten Rest ihres Weins. »Möchten jetzt alle sie hören?«
Köpfe nickten in der rosafarbenen Dämmerung. Martin Silenus zuckte mit den Achseln.
»Na gut«, sagte Brawne Lamia. Sie stellte das leere Glas weg, zog die Füße auf die Bank, sodass ihre Ellbogen auf den Knien ruhten, und begann mit ihrer Geschichte.
Die Geschichte der Detektivin: Der lange Abschied
In dem Augenblick, als er mein Büro betrat, wusste ich, der Fall würde etwas ganz Besonderes sein. Er war eine Schönheit. Damit meine ich nicht feminin oder »hübsch« wie die männlichen HTV-Stars, bloß … schön.
Er war klein, nicht größer als ich, und ich wurde in der 1,3-ge-Schwerkraft von Lusus geboren und großgezogen. Aber man sah auf den ersten Blick, dass mein Besucher nicht von Lusus stammte – seine kompakte Gestalt war nach Netznormen wohlproportioniert, athletisch und schlank. Sein Gesicht war eine Studie entschlossener Energie: niedrige Stirn, vorstehende Wangenknochen, gedrungene Nase, kräftiger Kiefer und ein breiter Mund, der sowohl auf eine sinnliche
Seite wie auf eine störrische Ader hindeutete. Seine Augen waren groß und mandelfarben. Er schien Ende zwanzig Standard zu sein.
Sie müssen begreifen, dass ich das alles nicht in dem Augenblick in mich aufnahm, als er zur Tür hereintrat. Mein erster Gedanke war: Ist das ein Klient? Mein zweiter Gedanke war: Herrgott, ist der Kerl schön!
»M. Lamia?«
»Ja.«
»Brawne Lamia von der Detektei AllNetz?«
»Ja.«
Er sah sich um, als könnte er es nicht so recht glauben. Ich verstand den Blick. Mein Büro befindet sich im dreiundzwanzigsten Stock eines alten Industrieschwarms im Stadtteil Old Dig von Iron Pig auf Lusus. Drei große Fenster bieten Ausblick auf Kanal 9, wo es immer dunkel ist und dank des Filterwassers des darübergelegenen Schwarmstocks immer nieselt. Man sieht überwiegend verlassene automatische Ladedocks und rostige Geländer.
Scheiß drauf, es ist billig. Und die meisten meiner Klienten rufen lieber an, statt persönlich herzukommen.
»Darf ich mich setzen?«, fragte er, nachdem er sich ganz offenbar damit abgefunden hatte, dass eine Detektei mit erstklassigem Ruf von einem derartigen Dreckloch aus arbeitete.
»Gewiss doch«, sagte ich und deutete auf einen Stuhl. »M … äh?«
»Johnny«, sagte er.
Er sah mir nicht nach dem geselligen Kumpeltyp aus. Etwas an ihm stank nach Geld. Nicht seine Kleidung – die war gewöhnlich, schwarz und grau, nur der Stoff war von überdurchschnittlicher Qualität –, es war einfach nur der Eindruck, dass der Typ Klasse hatte. Es war etwas an seinem Akzent. Ich kann Dialekte gut einordnen – das hilft einem in diesem Beruf
–, aber die Heimatwelt dieses Burschen konnte ich nicht erraten, geschweige denn die lokale Region.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Johnny?« Ich hielt ihm die Flasche Scotch hin, die ich hatte wegstellen wollen, als er hereingekommen war.
Johnny-Boy schüttelte den Kopf. Vielleicht dachte er, ich würde ihn aus der Flasche trinken lassen. Verdammt, mehr Klasse habe ich schon. Neben der Wasserflasche stehen Pappbecher. »M. Lamia«, sagte er, und der kultivierte Akzent plagte mich immer noch, weil ich ihn nicht zuordnen konnte, »ich brauche einen Detektiv.«
»Das ist mein Beruf.«
Er machte eine Pause. Schüchtern. Viele meine Klienten verraten nur ungern, worum es geht. Kein Wunder, da neunzig Prozent meiner Arbeit aus Scheidungen und häuslichen Angelegenheiten bestehen. Ich ließ ihm Zeit.
»Es ist ein etwas heikles Thema«, sagte er schließlich.
»Ja, M … äh, Johnny, der Großteil meiner Arbeit fällt in diese Kategorie. Ich unterstehe UniNetz, und alles, was mit einem Klienten zu tun hat, fällt unter das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre. Alles ist vertraulich, sogar die Tatsache, dass wir uns gerade unterhalten. Auch wenn Sie beschließen sollten, mich nicht anzuheuern.« Das war zwar ausgemachtes dummes Zeug, da die Behörden jederzeit an meine
Weitere Kostenlose Bücher