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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wegbringen.

     
    Ich verbrachte zwei Wochen im Genesungsbad des Shrike-Tempels. Brandwunden heilten, Narben wurden entfernt, Fremdmetall herausoperiert, Haut transplantiert, Fleisch neu gezüchtet, Nerven verwoben. Und immer noch hatte ich Schmerzen.
    Außer den Priestern des Shrike verloren alle das Interesse an mir. Der Core stellte sicher, dass Johnny tot war; dass seine Präsenz im Core keine Spuren hinterlassen hatte; dass sein Cybrid tot war.
    Die Behörden nahmen meine Aussage auf, entzogen mir die Lizenz und vertuschten alles, so gut sie konnten. Die Netz-Presse berichtete, dass ein Krieg zwischen Banden aus Dregs’ Stock zum Massaker der Concourse Mall geführt hatte. Zahllose unschuldige Passanten und Bandenmitglieder waren ums Leben gekommen. Die Polizei hatte Einhalt geboten.
    Eine Woche bevor bekannt wurde, dass die Hegemonie der Yggdrasil erlaubte, mit Pilgern ins Kriegsgebiet um Hyperion zu reisen, benützte ich einen Farcaster des Tempels und ’castete nach Renaissance Vector, wo ich eine Stunde allein in den Archiven zubrachte.
    Die Papiere befanden sich in einer Vakuumpresse, daher konnte ich sie nicht berühren. Die Handschrift war die von Johnny; ich hatte seine Schrift schon früher gesehen. Das Pergament war gelb und durch das hohe Alter brüchig. Zwei Fragmente waren vorhanden. Das erste lautete:
    Der Tag und seine Süße sind dahin:
Haar, Mund und Brüste, warmer Atemstoß,
Gewisper, Halbton, zart verwirrter Sinn,
Aug, feiner Wuchs und lässig weicher Schoß.
Fort sind die Blumen und ihr Knospenschwall,
Fort schöner Schein aus meines Augs Verlies,
Fort schöner Stoff aus meiner Arme Wall,

Fort Weiß und Wärme, Schoß und Paradies
Vorbei des Abends End: noch vor der Zeit,
Da Feiertag, nein, Feiernacht zur Zier
Der Liebe dichter webt die Dunkelheit:
Das schwarze Zelt für heimliche Begier.
So fromm wie heut dient ich der Liebe nie –
Drum komm, o Schlaf, denn sieh: ich fast und knie!
    Das zweite Fragment war in ungelenker Handschrift und auf gröberem Papier, als wäre es hastig auf einen Notizblock gekritzelt worden:
    Die warme Hand, die noch voll Leben ist
Und zupackt mit Begier, die würde dich,
Läg sie erstarrt in eisig stummer Gruft,
So jagen tags und so durchkälten nachts,
Dass du dein eigen Herzblut gäbst für sie,
Damit es rot durch meine Adern rausch
Und dir wär wieder leicht zumut – hier, schau:
Ich halte sie dir hin!
    Ich bin schwanger. Ich glaube, Johnny hat es gewusst. Aber sicher bin ich mir nicht.
    Ich bin zweifach schwanger. Einmal mit Johnnys Kind und einmal mit der Erinnerung daran, was er war – in der Schrön-Schleife. Ich weiß nicht, ob die beiden vereint werden sollen. Es wird Monate dauern, bis das Kind zur Welt kommt, und nur Tage, bis ich dem Shrike gegenübertrete.
    Aber ich kann mich an die Minuten erinnern, nachdem Johnnys zerschundener Leichnam zur Menge hinausgebracht worden war und ehe sie mich wegtrugen. Sie waren alle da in der Dunkelheit, Hunderte von Priestern und Messdienern und Exorzisten und Türstehern und Gläubigen … Und sie fingen
wie mit einer Stimme an zu singen, dort im roten Halbdunkel unter der kreisenden Skulptur des Shrike, und ihre Stimmen hallten in dem gotischen Gewölbe wider. Was sie sangen, lautete etwa folgendermaßen:
    »GESEGNET SEI SIE
GESEGNET SEI DIE MUTTER UNSERES ERLÖSERS
GESEGNET SEI DAS INSTRUMENT UNSERER BUSSE
GESEGNET SEI DIE BRAUT UNSERER SCHÖPFUNG
GESEGNET SEI SIE.«
    Ich war verletzt und stand unter Schock. Ich verstand es damals nicht. Ich verstehe es auch jetzt nicht.
    Aber ich weiß jetzt, wenn der Zeitpunkt gekommen ist und das Shrike sich zeigt, werden Johnny und ich ihm gemeinsam entgegentreten.
     
    Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen. Die Seilbahn schwebte zwischen Sternen und Eis dahin.
    Die Gruppe saß schweigend da; lediglich das Quietschen des Kabels war zu hören.
    Als geraume Zeit verstrichen war, sagte Lenar Hoyt zu Brawne Lamia: »Sie tragen auch die Kruziform.«
    Lamia sah den Priester an.
    Oberst Kassad beugte sich zu ihr. »Glauben Sie, Het Masteen war der Tempelritter, der mit Johnny gesprochen hat?«
    »Möglich«, sagte Brawne Lamia. »Ich habe es nie herausgefunden.«
    Kassad blinzelte nicht. »Haben Sie Masteen getötet?«
    »Nein.«
    Martin Silenus streckte sich und gähnte. »Wir haben noch ein paar Stunden bis Sonnenaufgang«, sagte er. »Möchte außer mir noch jemand eine Runde schlafen?«

    Mehrere Köpfe nickten.
    »Ich bleibe auf und halte

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