Die Ich-Illusion
Umgebung und bastelt daraus eine zusammenhängende Geschichte. Wie das folgende klassische Experiment zeigt, verwendet es auch Informationen aus dem Körper.
Das Hormon Epinephrin (Adrenalin) wird von den Nebennieren abgegeben und aktiviert das sympathetische Nervensystem, was zu beschleunigtem Herzschlag, kontrahierten Blutgefäßen und erweiterten Atmungswegen führt. Dadurch werden Gehirn und Muskeln besser mit Sauerstoff und Glukose versorgt. Es verursacht außerdem zitternde Hände, Erröten im Gesicht, beschleunigte Atmung und Angstgefühle. Unser Körper stößt es bei verschiedenen Gelegenheiten aus, die von der oben erwähnten Flucht-oder-Kampf-Reaktion bis zu kürzeren und geringeren Stressfaktoren reichen, etwa Gefahr (Sie fallen mitten im Wildwasser aus dem Schlauchboot), Aufregung (Sie stehen im Konzertpublikum und Ihr Idol betritt die Bühne) oder erschreckender Lärm, Hitze oder andere Umweltfaktoren, zum Beispiel, wenn Ihr Chef unerwartet auftaucht. Stanley Schachter und Jerry Singer von der Columbia University führten 1962 ein Experiment durch (heutzutage würde es wahrscheinlich untersagt, weil es auf einer Täuschung der Probanden beruhte), um zu zeigen, dass emotionale Zustände aus einer Kombination physiologischer Erregung und kognitiver Faktoren entstehen. 8 Die Probanden bekamen gesagt, dass sie eine Vitamininjektion erhalten würden, um zu prüfen, ob diese sich auf das visuelle System auswirke, aber in Wirklichkeit bekamen sie Epinephrin gespritzt. Einigen der Teilnehmer wurde gesagt, die Vitamininjektion würde Nebeneffekte wie beschleunigte Atmung, Muskelzittern und Erröten verursachen, anderen dagegen, es werde keine Nebenwirkungen geben. Nach der Epinephrin-Injektion wurden die Versuchspersonen mit einem Verbündeten des Versuchsleiters zusammengebracht, der sich entweder euphorisch oder wütend gestimmt zeigte. Diejenigen Probanden, die über die angeblichen Nebeneffekte der Injektion informiert worden waren, führten ihre Symptome, zum Beispiel das Herzrasen, auf das Medikament zurück. Die nicht informierten Probanden machten ihre Umgebung für ihre physiologisch verursachte Erregung verantwortlich. Diejenigen, die auf eine euphorische andere Person trafen, fühlten sich ebenfalls in gehobener Stimmung, während diejenigen, die auf eine ärgerliche andere Person trafen, ebenfalls ärgerlich wurden. Es gab also drei verschiedene, plausible Erklärungen für die körperlichen Symptome, aber nur eine richtige: die Epinephrin-Injektion. Auch hier zeigt sich die menschliche Tendenz zur Erfindung von Erklärungen. Wenn wir erregt sind, wollen wir wissen, warum. Wenn es eine offensichtliche Erklärung gibt, akzeptieren wir sie, wie es die Gruppe tat, die über die Effekte des Epinephrins informiert war. Gibt es keine, dann machen wir uns eine.
Dieser Erklärungs-Prozess der linken Hirnhälfte nimmt also alle vorliegenden Daten, fügt sie zu einer sinnvollen Geschichte zusammen und gibt sie aus. Wie wir gesehen haben, sind diese Erklärungen aber nur so gut wie die Informationen, die die linke Hirnhälfte erreichen, und die waren in vielen der angeführten Beispiele schlicht falsch.
DU BIST NUR SO GUT WIE DEIN INPUT
Wenn man diesen Mechanismus entdeckt hat, fragt man sich natürlich, wie oft er ein falsches Ergebnis liefert. Wir können uns leicht Beispiele vorstellen, in denen wir unser auf andere Menschen bezogenes Verhalten falsch interpretiert haben. Allerdings ist es schwieriger herauszufinden, wann wir unsere eigenen emotionalen Reaktionen falsch interpretiert haben, und noch schwieriger zu erkennen, wann sie wirklich falsch sind. Verschiedene emotionale Zustände und psychische Störungen werden durch Fehler im Körperinneren, durch Fehler des Hirnstoffwechsels selbst verursacht, zum Beispiel solche, die bei Panikattacken auftreten. Ein solcher physiologischer Vorgang, der zu einer Ausschüttung von Epinephrin führt, bringt einen veränderten emotionalen Zustand hervor, der dann erklärt werden muss. Die meisten Menschen sagen sich nicht: »Hm, dieser beschleunigte Herzschlag und der Schweißausbruch sind sicher auf einen Fehler im Hirnstoffwechsel zurückzuführen. Ich lasse mich mal lieber untersuchen.« Stattdessen nimmt das Interpretier-System meistens die individuellen psychischen Faktoren und Umgebungsreize und bastelt daraus eine Erklärung: »Mein Herz hämmert und mir bricht der Schweiß aus, also habe ich Angst, und was mir Angst macht, ist … [sieht sich um und
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