Die Ich-Illusion
übersetzte, die einen Sinn ergab. Wir nennen diesen Prozess in der linken Hirnhälfte den Interpreten (interpreter) . 4
Es gibt zahlreiche Beispiele für diesen Prozess bei unseren Split-Brain-Patienten. So zeigten wir zum Beispiel der rechten Hirnhälfte das Wort Glocke und der linken das Wort Musik. Der Patient gab an, das Wort Musik gesehen zu haben. Als er gebeten wurde, auf ein Bild des Gesehenen zu zeigen, wählte er die Glocke, obwohl er andere Bilder vor sich liegen hatte, die den Begriff Musik besser ausdrückten. Darauf fragten wir ihn, warum er die Glocke gewählt habe. Er erwiderte: »Naja, Musik, das letzte Mal, dass ich Musik gehört habe, waren die Glocken hier draußen.« (Er meinte den Glockenturm.) Seine sprachfähige linke Hirnhälfte musste sich eine Geschichte ausdenken, um zu erklären, warum er auf die Glocke gezeigt hatte. Bei einem weiteren Versuch zeigten wir der linken Hemisphäre das Wort rot und der rechten das Wort Banane. Dann legten wir verschiedenfarbige Stifte auf den Tisch und baten den Patienten, mit seiner linken Hand ein Bild zu zeichnen. Er wählte den roten Stift (die linke Hirnhälfte traf eine einfache Entscheidung) und zeichnete mit der linken Hand eine Banane (hier agierte die rechte Hirnhälfte). Als ich ihn fragte, warum er eine Banane gezeichnet habe, erwiderte seine linke Hirnhälfte, die keine Ahnung hatte, warum seine linke Hand das getan hatte: »Sie ist mit dieser Hand am einfachsten zu zeichnen, weil sie den Strich leichter von oben nach unten zieht.« Wieder sagte er nicht: »Ich weiß es nicht«, wie es zutreffend gewesen wäre.
Wir fragten uns, ob emotionale Reaktionen oder Stimmungsveränderungen ebenfalls diesem nachträglichen Fabulieren unterlagen, und führten dieselbe Art Experiment mit einem jugendlichen Patienten durch, nachdem wir eine Stimmungsveränderung bei ihm ausgelöst hatten. Zuerst fragten wir laut: »Wer ist dein Lieblings …« (das hörten beide Hemisphären). Dann zeigten wir der rechten Hirnhälfte das Wort Freundin. Er lächelte sofort, errötete, war peinlich berührt (die Stimmungsveränderung) und schüttelte den Kopf, gab aber an, das Wort nicht gehört zu haben. Mehr wollte er nicht sagen. Das war die zu erwartende emotionale Reaktion eines Teenagers, der nach seiner Freundin gefragt wird, einschließlich der Weigerung, darüber zu sprechen – aber er wusste nicht, warum er so reagiert hatte. Schließlich schrieb er den Namen seiner Freundin mit der rechten Hand auf.
KASINOSPIELE: MENSCH GEGEN RATTE
Dann fragten wir uns, ob wir mit einem Versuch würden zeigen können, dass die linke und die rechte Hirnhälfte die Welt jeweils verschieden analysieren. Wir benutzten ein klassisches Experiment der experimentellen Psychologie, das Schätzen von Wahrscheinlichkeiten: Die Versuchspersonen müssen raten, welches von zwei Ereignissen als Nächstes eintreten wird: Wird das Licht über oder unter der Linie aufblinken? Der Versuchsleiter kann das Licht so einstellen, dass es in 80 Prozent der Fälle über und in den restlichen 20 Prozent unter der Linie aufleuchtet. Wie sich herausgestellt hat, schneiden Ratten bei diesem Versuch besser ab als Menschen. Alle Tiere außer dem Menschen maximieren nämlich, dass heißt, sie wählen immer die am häufigsten aufgetretene Option. Ratten lernen schnell, dass sie immer auf das obere Licht tippen müssen. So bekommen sie in 80 Prozent der Fälle die erstrebte Belohnung. Tauben maximieren ebenfalls, genau wie die Kasinos in Las Vegas und Kinder unter vier Jahren. 5 Dann aber ändert sich etwas: Menschen im Alter über vier Jahren setzen auf eine andere Strategie, die sogenannte Häufigkeitsanpassung, indem sie die Häufigkeit der bisherigen Verteilungen in ihren Vermutungen widerspiegeln. Sie tippen also in 80 Prozent der Fälle auf ein Aufleuchten über und in 20 Prozent der Fälle auf ein Aufleuchten unterhalb der Linie. Das Problem mit dieser Strategie ist, dass sie zu großen Fehlleistungen führen kann, weil der Einzelfall völlig vom Zufall bestimmt wird. Selbst wenn die Versuchspersonen ausdrücklich gesagt bekommen, dass der Zufall regiert, versuchen sie immer noch, ein System für eine erfolgreiche Strategie zu entwickeln. Im Durchschnitt vermuten sie damit nur in 67 Prozent der Fälle richtig. Es gelang uns, dieses Experiment mit beiden Hirnhälften getrennt durchzuführen. Dabei fanden wir heraus, dass die rechte Hirnhälfte ebenfalls die Maximierungsstrategie verfolgt, 6 genau wie
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