Die Ich-Illusion
eine unbewusste Abkürzung über die Amygdala, den sogenannten Mandelkern, der unter dem Thalamus sitzt und alles mitverfolgt, was ihn durchläuft. Wenn die Amygdala ein Muster erkennt, das in der Vergangenheit mit Gefahr verbunden war, schickt sie auf direktem Weg einen Impuls an den Hirnstamm, der die Flucht-oder-Kampf-Reaktion aktiviert und Alarm schlägt. Ich springe automatisch zurück, bevor ich weiß, warum. Ich treffe keine bewusste Entscheidung und reagiere unwillkürlich. Das sieht man beispielsweise dann, wenn man dabei seinem Bruder auf den Fuß getreten ist und sich herausstellt, dass es gar keine Schlange war, sondern bloß der Wind im Gras. Dieser eingefahrene, schnellere Weg, die alte Flucht-oder-Kampf-Reaktion, ist natürlich auch bei anderen Säugetieren vorhanden und hat sich in einer langen Evolution entwickelt.
Hätte mich jemand gefragt, warum ich zurückgesprungen bin, dann hätte ich erwidert, dass ich geglaubt hatte, eine Schlange zu sehen. Diese Antwort ist zwar sinnvoll, doch ich bin schon gesprungen, bevor ich mir der Schlange bewusst war: Ich hatte sie zwar gesehen, doch es war mir nicht bewusst. Meine Erklärung beruht auf Informationen, die ich nachträglich ins Bewusstsein bekam, nämlich, dass ich zurückgesprungen bin und eine Schlange gesehen habe. In Wirklichkeit bin ich gesprungen, lange bevor (in der Welt der Millisekunden) die Schlange in mein Bewusstsein kam. Ich habe keine bewusste Entscheidung getroffen zu springen und sie dann bewusst ausgeführt. Meine Begründung war in gewisser Weise eine Konfabulation: Man denkt sich eine fiktive Erklärung für einen gegebenen Zustand aus und glaubt anschließend selbst daran.
Der wirkliche Grund, warum ich zurückgesprungen bin, war eine unwillkürliche Reaktion auf den von der Amygdala ausgelösten Angstreflex. Der Grund für das nachträgliche Fabulieren war der Drang unseres Gehirns, alles kausal zu erklären. Es versucht stets, den verstreuten Fakten einen stimmigen, zusammenhängenden Sinn zu geben. Die Fakten, die mein Bewusstsein in diesem Fall vorliegen hatte, waren die, dass ich eine Schlange gesehen hatte und ich zurückgesprungen war. Es registrierte meinen Sprung nicht, bevor ich mir der Schlange bewusst geworden war.
In diesem Kapitel werden wir etwas Seltsames über uns selbst erfahren. Wenn wir unsere Handlungen erklären, dann sind es immer nachträgliche Erklärungen gemäß nachträglichen Beobachtungen ohne Zugriff auf die unbewussten Prozesse. Nicht nur das, unsere linke Hirnhälfte schummelt auch ein bisschen, um alles in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Erst wenn die Geschichte, die dabei herauskommt, allzu sehr von den Tatsachen abweicht, zieht die rechte Hirnhälfte die Zügel an. All diese Erklärungen beruhen auf dem, was bis ins Bewusstsein vordringt. Aber die Wirklichkeit besteht aus den Handlungen und Gefühlen, die geschehen, bevor wir ihrer gewahr werden – und die meisten von ihnen sind das Ergebnis unbewusster Prozesse, die in den Erklärungen gar nicht vorkommen. Die Wahrheit ist, dass es zwar interessant ist, den Erklärungen von Menschen für ihr Handeln zuzuhören – bei Politikern mithin auch unterhaltsam –, aber oft reine Zeitverschwendung.
DER EISBERG DES UNBEWUSSTEN
Das Bewusstsein braucht Zeit, und die haben wir oft nicht. Unsere Vorfahren reagierten in Lebensgefahr und Konkurrenzsituationen schnell. Wer zu langsam war, lebte nicht lange genug, um zu einem Vorfahren zu werden. Die unterschiedliche Verzögerung bei willkürlichen und unwillkürlichen Reaktionen lässt sich leicht demonstrieren. Wenn ich Sie vor einen Bildschirm setze und bitte, jedes Mal einen Knopf zu drücken, wenn Sie ein Licht aufblinken sehen, können Sie das nach ein paar Durchgängen in etwa 220 Millisekunden. Wenn ich Sie aber bitte, ein kleines bisschen langsamer zu reagieren, etwa nach 240 oder 250 Millisekunden, dann schaffen Sie es nicht, sondern werden sofort mehr als 50 Prozent langsamer. Ihre Reaktionszeit liegt dann bei etwa 550 Millisekunden. Wenn erst einmal das Bewusstsein eingreift, brauchen Sie länger, weil das Bewusstsein mit einer geringeren Grundgeschwindigkeit arbeitet. Das kennen Sie vielleicht schon aus eigener Erfahrung. Haben Sie vielleicht früher einmal Klavier oder ein anderes Musikinstrument geübt und Stücke auswendig spielen gelernt? Wenn Sie sich ein Stück erst einmal angeeignet hatten, flogen Ihre Finger nur so über die Tasten – bis Sie einen Fehler machten und sich
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