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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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    Da ist der Schulbus. Da ist die Schulbustür, die mit dem vertrauten Zischen und Schnaufen aufgeht. Da sind die Stufen am Schulbus. Den rechten Fuß auf die unterste stellen. Dann das linke Bein hoch zur nächsten. Da ist Katie, die böse Busfahrerin, die schlecht gelaunt durch die Windschutzscheibe starrt. Da ist dein Rucksack, schwer und schmerzhaft auf deinen Schultern. Wo ist deine Schwester Ivy, die doch hinter dir stehen und dich anstupsen sollte, damit du mal schneller machst? Ivy ist nicht da. Du und deine Schwester, ihr hattet einen Unfall. Jetzt bist du im Bus. Geh durch den Gang. Da ist ein freier Platz. Setz dich. Jetzt sind alle eingestiegen. Jetzt schließt Katie die Tür und legt mit dem großen schwarzen Schalthebel den Gang ein.
    Der erste Tag nach deiner Rückkehr ist vorüber. Die Glocke, die keine Glocke ist, hat gescheppert, und damit war die Schule aus.
    Jimmy Wilson sitzt neben dir auf der Sitzbank mit dem alten grünen Plastikbezug. Jimmy Wilson, der seit Kindergartentagen wortlos in dich verliebt ist. Der Bus rattert und rumpelt stöhnend und ächzend über die Serpentinen an der Schlucht, der Sterns Gorge. Du bist zurück im Bus.
    Deine Schwester Ivy und du, ihr hattet einen Unfall.
    Die Erde hätte aufhören müssen, sich zu drehen, doch das tat sie nicht.
    Ein Monat ist vergangen seit jenem Tag Ende März, als die Zeit dich emporgehoben und wieder abgesetzt hat, hier an diesem neuen Ort. In diesem einen Monat hat Katie, die Busfahrerin, aufgehört, ihre Windjacke mit dem Logo der Dairylea-Molkerei zu tragen, so wie Jimmy Wilson nicht mehr die Pelzmütze trägt, die ein Onkel ihm aus Russland mitgebracht hat. Auch keine Winterstiefel mehr. Keine Handschuhe und Schals. Das braune Gras ist jetzt grün. Und in der Schule sind sie in jedem Fach weiter: Adieu, Romeo und Julia , hallo, Hamlet . Adieu, Zweiter Weltkrieg , hallo, Korea . Adieu, Stringtheorie , hallo, Chaos und Komplexität .
    Deine Schwester Ivy und du, ihr hattet einen Unfall. Die Erde hätte aufhören müssen, sich zu drehen, doch das tat sie nicht. Die Erde drehte sich weiter.
    Wie ist das möglich, dass die Welt sich einfach immer weiter dreht? Bei einem Erdbeben in Indien kommen tausend Menschen um, und die Erde dreht sich weiter. Bei einer Hungersnot in China kommt eine Million Menschen um, und die Erde dreht sich weiter. Die Zwillingstürme des World Trade Center knicken ein und stürzen in sich zusammen, und die Erde, die Erde dreht sich weiter.
    Du stehst morgens auf. Du gehst ins Bad. Du machst Toast, bestreichst ihn mit Butter und isst ihn. Du kochst Kaffee, stellst dich unten an die Treppe und rufst deiner Mutter zu: »Kaffee ist fertig!« Dein Nachbar William T. Jones fährt in seinem Truck vorbei und winkt. Du winkst zurück. Das Telefon läutet, du nimmst ab. Du siehst dir selbst dabei zu, wie du all diese Dinge tust. Du fühlst dich, als wärst du von dir selbst getrennt. Manchmal bist du für dich selbst du , nicht ich .
    Dein Herz in deiner Brust kann dem Gewicht des Schmerzes kaum standhalten.
    Jimmy Wilson, der neben dir sitzt, sieht dich nicht an. Jimmy Wilson, der neben mir sitzt, sieht mich nicht an . Ich bin's, Jimmy, ich. Rose. Dieselbe Rose, die du dein Leben lang gekannt hast. Auch Warren Graves sieht mich nicht an. Katie hat mich nicht angesehen, als ich eingestiegen bin. Niemand sieht mich an. Ich bin unsichtbar. Hallo – ich bin Rose Latham. Ich bin Rose, hallo. Kann keiner mehr mit Rose sprechen? Wie könnt ihr immer so weitermachen? Ich könnte schreien. Wie könnt ihr euer dummes, dummes Leben immer weiterleben, wenn nichts mehr so ist, wie es war?
    Ivy und ich hatten einen Unfall in den Adirondacks. In der Abenddämmerung.
    Ivy schläft jetzt. Ich habe an ihrem Bett gesessen, einen ganzen Monat lang, und gewartet, dass sie aufwacht. Ich habe mich geweigert, zu gehen und vielleicht den Moment zu verpassen, in dem sie aufwacht.
    »Ich weiche nicht von ihrer Seite«, habe ich allen gesagt, dem Arzt und der Krankenschwester und meiner Mutter und William T. »Stellt euch vor, sie wacht auf und ich bin nicht da.«
    Wer sonst wäre denn da? Jedenfalls nicht unsere Mutter. Unsere Mutter arbeitet von früh bis spät in der Brauerei, der Utica Club Brewery, dann fährt sie nach Hause, nach Norden, in die Ausläufer des Adirondack-Gebirges. Den Abend verbringt sie damit, ihre Hände beschäftigt zu halten.
    Also habe ich gewartet. Gewartet. Gewartet.
    Doch sie schlief. Ivy schlief und schlief und schlief.

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