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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gazzaniga
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vom Probanden nicht wahrgenommen wurde, tatsächlich den motorischen Cortex aktivierte. Wenn man dazu bedenkt, dass durch unbewusst wahrgenommene Reize auch robuste Wahrnehmungsnachwirkungen ausgelöst werden können, 3 wird klar, dass sich ein großer Teil der Gehirntätigkeit außerhalb bewusster Wahrnehmung und Kontrolle abspielt. (»Mein Gehirn ist schuld, ich kann nichts dafür!«) Die im Gehirn eingebauten Systeme führen also automatisch ihre Funktionen aus, wenn sie mit Reizen aus ihrem Zuständigkeitsbereich angeregt werden, und zwar sehr oft, ohne dass wir es überhaupt mitbekommen.
    Diese automatische Verarbeitung kann auch erworben werden und kommt durch Übung zustande. Neben dem Musizieren ist Maschineschreiben ein weiteres Beispiel. Wenn man es lange genug geübt hat, kann man tippen, ohne darüber nachzudenken. Frage ich Sie allerdings zum Beispiel, wo die V-Taste ist, müssen Sie innehalten und bewusst überlegen. Das dauert. Automatisches Handeln macht uns viel effizienter. Prozesse zu automatisieren ist das, was uns zu Experten macht. Ein Radiologe, der den ganzen Tag Mammogramme auswertet, wird umso besser und schneller diagnostizieren, je länger er es tut, weil das Mustererkennungssystem in seinem Gehirn besser eingeübt ist und Muster automatisch erkennt, die auf anormales Gewebe hinweisen. Zu einem Experten wird man, indem man eine automatische Mustererkennung für eine bestimmte Aufgabe entwickelt.
DIE ICH-ILLUSION
    Nachdem wir uns also jetzt bewusst (!) sind, dass die meisten Prozesse im Gehirn unbewusst und automatisch ablaufen, kommen wir wieder auf die Frage zurück, mit der das vorige Kapitel endete: Wenn die vielen komplexen Systeme, die da unbewusst vor sich hin arbeiten, so verteilt und mannigfaltig sind, wieso fühlen wir uns dann als einheitlich Handelnde? Die Antwort auf diese Frage liegt in der linken Hirnhälfte, und zwar in einem der Module dort, auf das wir während unserer Forschungsarbeit zufällig gestoßen sind. Wieder einmal haben unsere Split-Brain-Patienten erstaunliche Ergebnisse geliefert.
    Als die Experimente schon einige Jahre liefen, arbeiteten wir mit einer anderen Gruppe von Split-Brain-Patienten an der Ostküste und begannen uns zu fragen, wie sie sich eigentlich fühlten, wenn wir der rechten Hirnhälfte Informationen zuspielten und die linke Hand baten, etwas zu tun. Wie erklären sie sich selbst, dass ihre linke Hand plötzlich tätig wird? Das ist so, als ob Sie beim Lesen dieses Buches plötzlich sähen, dass Ihre Hand mit den Fingern schnippt. Wie würden Sie es einordnen? Wir dachten uns einen Versuch aus, bei dem wir die Patienten fragen konnten, was ihre linke Hand ihrer Meinung nach gerade tue. Dadurch erkannten wir eine weitere erstaunliche Fähigkeit der linken Hirnhälfte.
    Wir zeigten einem Split-Brain-Patienten zwei Bilder: Sein rechtes Sehfeld sah einen Hühnerfuß, den also seine linke Hemisphäre wahrnahm, und sein linkes Sehfeld sah eine Schneelandschaft, die also seine rechte Hemisphäre wahrnahm. Dann sollte er ein Bild aus einer Bilderreihe auswählen, die offen vor ihm lag und von beiden Hirnhälften wahrgenommen werden konnte. Die linke Hand zeigte auf eine Schaufel (die beste Assoziation für die Schneelandschaft) und die rechte auf ein Huhn (die beste Assoziation für den Hühnerfuß). Dann fragten wir ihn, warum er diese beiden Bilder ausgewählt habe. Sein Sprachzentrum in der linken Hemisphäre antwortete: »Oh, ganz einfach. Der Hühnerfuß passt zum Huhn«, und erklärte damit problemlos, was diese Hemisphäre wusste. Die linke Hirnhäfte hatte den Hühnerfuß gesehen. Dann merkte er, dass seine linke Hand auf die Schaufel zeigte, und sprach ohne Zögern weiter: »Und natürlich braucht man eine Schaufel, um den Hühnerstall auszumisten.« Das linke Gehirn konstruierte also sofort einen passenden Zusammenhang für das Bild, das die linke Hand ohne sein Wissen ausgewählt hatte. Es interpretierte die Reaktion im Rahmen seines Wissens, und das beschränkte sich auf den Hühnerfuß, da es die Schneelandschaft nicht gesehen hatte. Nun, Hühner machen ziemlich viel Mist und Hühnerställe müssen oft gesäubert werden – das muss es sein! Passt ja zusammen. Das Interessante daran war, dass die linke Hirnhälfte nicht etwa sagte: »Ich weiß es nicht«, was die richtige Antwort gewesen wäre, sondern nachträglich etwas konstruierte, das die Situation erklärte. Es konfabulierte, indem es die ihm zugänglichen Hinweise in eine Antwort

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