Die indische Erbschaft
Jura. Um so eifriger nahm er an englischen Sprachkursen teil, bewarb sich um die Freundschaft amerikanischer und englischer Studenten und korrespondierte mit jungen Leuten in der gesamten englischsprechenden Welt, denn er zweifelte auch nicht eine Sekunde daran, berufen zu sein, die ein wenig überalterten Stars der Metro-Goldwyn-Mayer demnächst abzulösen.
Martha wusch sich in der Küche. Sie brauchte sich keine Mühe zu geben, leise zu sein, denn Werner schlief wie ein Toter, und es bedurfte an manchem Morgen der vereinten Anstrengungen der ganzen Familie, um ihn wach zu bekommen.
Dann setzte sie das Wasser für den Morgenkaffee auf und deckte den Frühstückstisch.
Während Martha das kochende Wasser über die Ersatzmischung goß, hörte sie Christas Schritte auf dem Korridor. Sie waren leider nicht zu verkennen, denn die arme Kleine trug das rechte Bein in einem Stützapparat. Sie hatte mit vierzehn Jahren eine spinale Kinderlähmung durchgemacht, in einer so bösartigen Form, daß die Ärzte befürchtet hatten, sie werde zeitlebens gelähmt bleiben. Glücklicherweise hatte sich dann nach mehr als einjährigem Krankenlager herausgestellt, daß die Nervenbahnen nicht völlig zerstört waren, so daß man hoffen durfte, Christa werde bei unermüdlichem Training den Muskelschwund und die Lähmungserscheinungen überwinden und eines Tages wieder in den völligen Gebrauch ihres rechten Beines zurückkommen. Seit sie zum ersten Mal entdeckt hatte, daß sie einen Zeh am Fuß bewegen konnte, hatte sie mit unendlicher Geduld und mit der verbissenen Konzentration eines Yogi Zeh um Zeh und Muskel um Muskel trainiert, bis das ganze Bein endlich wieder ihrem Willen wenigstens soweit gehorchte, daß sie sich mit dem Stützapparat bewegen konnte, und daß die Gefahr, das Bein könnte im Wachstum zurückbleiben, gebannt war. Ein erschütterndes Wunder, für ihre Familie fast noch größer als für sie selber, denn die Ärzte hatten ihr natürlich verheimlicht, wie wenig Hoffnung sie auf eine Besserung gesetzt hatten.
„Heda! Werner, auf stehn!“
Der Junge rührte sich nicht. Martha hätte ebensogut einem Holzklotz zureden können, lebendig zu werden. Sie ging zu ihm hin, hielt ihm die Nase zu und rüttelte daran. Er machte einen tiefen Schnapper und fuhr empor. „Immer diese Gemeinheiten!“ stöhnte er.
Martha warf ihm die zerknautschte Hose seines Schlafanzugs an den Kopf, „Wenn ich dich noch einmal ohne Hose finde, gieße ich dir einen Eimer Wasser ins Kreuz. Ein erwachsener Mensch und nackt wie ein Indianer. Daß du dich nicht schämst!“
Er kämmte die zerstrubbelte Mähne mit den Fingern aus der Stirn und schlüpfte in die buntgestreifte Flanellhose. „Vor der leibhaftigen Mutter schämen? Warum? Und außerdem kringelt sich das Biest immer hoch und schnürt mir die Beine ab.“
„Los, wasch dich schon! Christi ist unterwegs, und es wird höchste Zeit, daß ich Charlotte und Papa wecke.“ Christa öffnete die Küchentür und wünschte einen guten Morgen. Sie war ein blondes, hübsches Mädel mit einem über ihre sechzehn Jahre hinaus entwickelten Oberkörper. Um das Kummerbein zu verdecken, trug sie, wenn es nur irgend möglich war, lange Hosen. Seit der frühesten Jugend war Werner ihr Abgott, und wenn sie seine Leidenschaft für das Theater auch nicht teilte, so war sie doch seine aufmerksamste Zuhörerin, Bewunderin, Partnerin und Souffleuse. Zur Zeit war sie seine Ophelia.
„Geh, Kind, wirf Lotte aus dem Bett und klopfe tüchtig an der Schlafzimmertür.“
Christa kam vom Wecken zurück und wurde von der Mutter sofort in Beschlag genommen: „Also paß auf, Kind, es gibt heute gebratenen Schellfisch oder Kabeljau und Salatkartoffeln zum Mittagessen. Ein Kilo Fisch muß für euch vier langen. Die Kartoffeln kannst du bald aufsetzen, damit, sie kalt und schön speckig werden. Nimm viel Zwiebeln dazu, aber sei mit dem Öl sparsam, ja?“
„Jaja, ich mach es schon richtig, ich habe es ja schon oft genug allein gemacht.“
„Dorsch — Dorsch — Dorsch!“ seufzte Werner auf, „die Woche fängt gut an...“
„Halt den Mund und sei froh, daß es überhaupt etwas zu essen gibt! Wenn du soviel verdienen wirst wie der Jürgens, dann kannst du dir von deiner Frau jeden Tag Forellen in Butter braten lassen.“
„Und was soll ich zum Abendbrot besorgen?“ fragte Christa.
„Nimm ein Stück Preßsack, es kann ein gutes Pfund sein, am besten schwarzer und weißer gemischt, und dazu machst du eine
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