Die indische Erbschaft
etwas davon erzählt hast!“
Wilhelm Ströndle hüstelte spröde: „Nun ja, damals, als ich die Geschichte selber zum erstenmal hörte, wart ihr alle noch klein. Und außerdem ist es eine etwas — hm peinliche Geschichte „Also los, Papa, erzähl schon!“ drängte Charlotte.
„Nun — ich persönlich hatte damals, als man diese Papiere herbeischaffen mußte, gar nicht die Zeit dazu. Ich bat euern Großvater, sich darum zu kümmern, und weil er sowieso nichts zu tun hatte, als seine Pension zu verzehren, wurde diese Ahnenforschung auf seine alten Tage so etwas wie ein Steckenpferd von ihm. Er hat unsern Stammbaum bis aufs Jahr 1680 lückenlos aufgestellt und fuhr sogar nach Urach, Heilbronn, Biberach und in andere badisch-württembergische Städte, wo unsere Familie herstammt. Und bei dieser Gelegenheit fand er in Heilbronn im .Stadt- und Landboten“ die Geschichte unseres Urgroßvaters und hat sie hier aufgezeichnet.“ Er klopfte mit dem Knöchel gegen ein handschriftlich beschriebenes Blatt, das zwischen die Auszüge der Standesämter und Kirchenregister geheftet war.
„Vorlesen!“ riefen die Kinder und Martha im Chor.
Wilhelm Ströndle ließ die Brille mit einer Muskelbewegung der Stirnhaut auf die Nase fallen: „Artikel im ,Stadt- und Landboten 1 für Heilbronn vom 25. Oktober des Jahres 1848. Ein ruchloser Anschlag wurde allhier auf der siebten Morgenstunde des neunzehnten Oktober auf den Bürgermeister unserer Stadt Heilbronn Nikolaus Schenk verübt, dem jedoch nicht unser Bürgermeister, sondern dessen Hausfrau und Gattin Genoveva zum Opfer fiel. Der Attentäter, ein der Polizei wegen seiner liberal-demokratischen Gesinnung übel bekanntes Subjekt, der Zimmergeselle Johannes Ströndle, der die Gewohnheiten des Bürgermeisters Schenk erkundschaftet hatte, befestigte einen Sprengkörper, einen sogenannten Kanonenschlag, so teuflisch geschickt an einem gewissen Ort, den Bürgermeister Schenk um die siebte Morgenstunde alltäglich aufzusuchen pflegte, daß derselbe erst bei Benutzung desselben zur Explosion gelangte. Es war aber wie zu Anfang bemerkt nicht der Bürgermeister, sondern dessen Gattin, die dem Attentat zum Opfer fiel und nunmehr mit bösartigen, glücklicherweise aber nicht lebensbedrohenden Verletzungen das Bett hüten muß. Da die Bürgermeisterin nur noch einen Entsetzensschrei ausstoßen konnte, bevor sie in Ohnmacht fiel, kann füglich angenommen werden, daß der Urheber dieses verwerflichen und verbrecherischen Anschlages in der Meinung, er habe die Unglückliche getötet, sich selber entleibt hat. Man fand seinen Überrock am Ufer des Neckar, der in diesen Tagen infolge der anhaltenden Regenfälle Hochwasser führt. Eine Leiche ist allerdings bisher, so weit bekannt, nicht gelandet worden. Der Geflüchtete oder Tote hinterließ seinem Eheweib und seinen zwei unmündigen Kindern keine Nachricht. Wir bringen die Meldung von diesem erschrecklichen Ereignis, um unseren geneigten Lesern wiederum ein abschreckendes Exemplum vor Augen zu führen, bis zu welchem Grade von Bosheit politische Zügellosigkeit und Verblendung durch liberale demokratische Ideen einen Menschen zu führen vermögen. Das sind die Subjekte, die ein Hecker erzeugt und um sich schart. Videant consules! Der allseits beliebten und verehrten Frau Bürgermeisterin sprechen wir im Namen aller Bürger unserer lieben Vaterstadt unser Mitgefühl aus und wünschen ihr baldige Genesung!“
Die Familie brauchte einige Zeit, um die Nachricht dieses nichtswürdigen Streiches zu verdauen oder ihn sich mit allen Einzelheiten plastisch auszumalen. Sie kicherten, sie grinsten, sie rieben sich vergnügt die Hände, und Werner war es, der ihre Meinung mit fünf lapidaren Worten aussprach: „Ein toller Bursche, unser Opa!“
Und vielleicht hätte sich an diesen Ausspruch ein langes und heiteres Gespräch angeschlossen, wenn Martha nicht resolut auf den Kern der Sache zugesteuert wäre: „Das mag ja alles sehr witzig und komisch sein, aber ich frage, was steckt dahinter? Unser ,Stadtanzeiger’ ist doch bestimmt nicht das einzige Blatt, in dem dieser Aufruf veröffentlicht wird. Und wenn er in vielen Zeitungen erscheint, dann kostet das doch eine Menge Geld. Wer zahlt das und weshalb zahlt er das? Da muß doch etwas dahinterstecken, denn sonst hätte die englische Regierung doch keine Veranlassung, soviel Geld auszugeben...“
„Und ich bleibe dabei, es ist eine Erbschaft!“ rief Werner.
„Kinder, Kinder, so ein paar
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