Die indische Erbschaft
Heilbronn in Württemberg geborenen Johannes Chrysostomus Ströndle, der am 22. September 1865 in Japore (Indien) verstarb, werden ersucht, sich möglichst unter gleichzeitiger Vorlage von Dokumenten, die die Verwandtschaft mit dem Obengenannten beweisen, bei der Unterzeichneten Stelle zu melden.
London — Whitehall
Lord High Treasurer/Financiel Secretary.
Sie stellten nach den ersten Worten die Tassen ab, leckten sich die Marmelade aus den Mundwinkeln und reckten die Köpfe, um sein hinter der Zeitung verborgenes Gesicht zu sehen.
„Na und, und, und?“ rief Werner ungeduldig.
„Mein Urgroßvater hieß Johannes Chrysostomus!“ sagte Wilhelm Ströndle und ließ die Zeitung sinken. Über der Nase kerbte sich eine tiefe Falte in seine blasse Stirn.
„Woher weißt du das so genau?“ fragte Charlotte.
„Aus unseren Familienpapieren; man brauchte doch damals für alle möglichen Gelegenheiten einen Abstammungsnachweis.“
„Wie gut, daß du bei der Partei warst!“ grinste Werner.
„Ich war nicht bei der Partei! Ich war beim...“
„Moment mal!“ fuhr Martha dazwischen, „was soll das alles? Was hat dieser Aufruf zu bedeuten?“
„Eine Erbschaft vielleicht?“ orakelte Charlotte.
„Nach über hundert Jahren...?“ meinte Werner und verkniff zweifelnd den Mund.
„Weshalb nicht? Das hat man doch alles schon gelesen!“ Christa benutzte die Gelegenheit, sich einen Löffel voll Marmelade in den Mund zu schieben. „Herrgott, das wär eine Masche!“ seufzte sie auf und leckte den Löffel sorgfältig ab.
Wilhelm Ströndle erhob sich. Die Familienpapiere lagen, in einem blauen Ordner abgeheftet, in einer Schublade der Wäschekommode im Schlafzimmer. Er eilte hinüber und riß das Schubfach auf. Endlich fand er den gesuchten Kirchenbuchauszug mit dem Stempel und der Unterschrift des Pfarrers.
„Johannes Chrysostomus Ströndle, geboren am elften Mai achtzehnhundertzweiundzwanzig!“ rief er durch die offenen Türen.
„Es stimmt!“ kam es von Werner zurück, der inzwischen die Zeitung an sich gerissen hatte. In den Papieren blätternd, die Brille wieder in die Stirn geschoben, kam Wilhelm Ströndle zu seiner Familie in die Küche zurück.
„Und da ist die Todeserklärung, ausgestellt vom Amtsgericht Heilbronn am 15. März 1859... hört einmal zu... hier steht es:... erschien vor dem hiesigen Amtsgericht die Ehefrau des Zimmergesellen Johannes Chrysostomus Ströndle, Barbara Ströndle, geborene Pfäfflin, und beantragte zwecks neuerlicher Eheschließung, ihren seit dem 19. Oktober 1848 verschollenen Ehemann für tot zu erklären. Da trotz peinlicher Eruierung der Polizeibehörden von dem besagten Ströndle keinerlei Spur gefunden werden konnte und anzunehmen ist, daß sich derselbe nach seinem üblen Anschlag auf die Person des hiesigen Bürgermeisters Nikolaus Schenk selber entleibt hat und in den Wassern des Neckar abgetrieben worden ist, wird dem Antrag der Barbara Ströndle mit dem heutigen Datum stattgegeben und der am 11. Mai 1822 zu Heilbronn geborene Johannes Chrysostomus Ströndle für tot erklärt.“
„Ein feiner Urgroßvater!“ kicherte Charlotte.
„Was er wohl angestellt haben mag...?“ flüsterte Martha.
„Womöglich noch ein Mörder in der Familie!“ hüstelte Werner.
Nur Christa blieb ganz stumm und hörte sich alles mit großen Augen an.
„Aber da steht doch, daß er erst 1865 gestorben ist!“ rief Charlotte und tippte mit dem Zeigefinger auf den Zeitungsaufruf, „wie reimt sich das zusammen?“
„Hier in dem Wisch von dem Heilbronner Amtsgericht ist er ja nur für tot erklärt worden!“ rief Werner; „das besagt doch noch lange nicht, daß er wirklich gestorben war, als die Todeserklärung erfolgte. Der Ströndle, der in... wo war es doch gleich?“
„Japore in Indien“, antwortete Charlotte, nachdem sie einen Blick in die Zeitung geworfen hatte, und sie sprach den fremden Namen aus, als hätte sie erst gestern das Lesen gelernt.
„...also in Japore gestorben ist, das ist unser Urgroßvater!“ vollendete Werner, „daran gibt es gar keinen Zweifel. Das Geburtsdatum stimmt. Daß es zwei Leute gibt, die in Heilbronn am gleichen Tage geboren wurden und ausgerechnet Chysostomus heißen, ist doch völlig ausgeschlossen! Das ist für einen schon schlimm genug...“Er wandte sich an seinen Vater, der eifrig in den Familienpapieren herumblätterte.
„Ein verschollener Urgroßvater — das ist doch ein tolles Stück. Ich versteh dich nicht, Papa, daß du nie
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