Die innere Freiheit des Alterns
wir uns jetzt selbst gegenüber entfalten, uns selbst eine Große Mutter sein. Auf diesem Boden kann die Gelassenheit erwachsen, die zur Würde eines jeden Menschen, vor allem aber des alternden, gehört.
Auch wenn der spezielle Sinn der zweiten Lebenshälfte – imUnterschied zur ersten – der Bezug auf das »Schatzhaus der Menschheit«, auf die Schätze des kollektiven Unbewussten und der Kultur, sein soll, so ist nicht zu übersehen, dass im Alter auch ein neuer, besonderer Bezug zur Natur ansteht, aus der die Gelassenheit des Mitgehens mit den körperlichen Prozessen gewonnen werden kann.
Beobachten wir, wie ein Baum altert, eine Eiche zum Beispiel: Sie verliert Äste, lässt andere nachwachsen, wird vom Blitz getroffen, brennt vielleicht im Inneren aus, ernährt sich aber weiter durch die Rinde, wächst weiter, trägt Blätter, Früchte, zeugt junge Triebe am Baum wie auch neben dem Baum, zeugt junge Bäume, nimmt selber immer charaktervollere Gestalt an, wird immer beeindruckender. Die mehr als hundertjährige Eiche von Hofgeismar bei Kassel hat einen gewaltigen Umfang – sie lebt noch immer, aber einmal wird sie doch sterben. Im Reinhardswald bei Kassel ist seit Jahrzehnten alles naturbelassen, die gestürzten und erstorbenen Bäume liegen dort, wohin sie gefallen sind, und geben die Nährstoffe für das übrige Lebendige im Wald ab. Noch immer siegt das größere, umfassendere Leben.
Die Bäche fließen abwärts, die Flüsse münden ins Meer. Aus dem Meer steigen die Wolken auf, aus den Wolken fällt Regen, füllt Flüsse und Seen, füllt das Meer; beregnet auch die Berge, aus denen sich die neuen Quellen speisen. So gilt es einzumünden, sich einzuschwingen in die großen Vorgänge der Natur, sich ihnen neu zu überlassen.
Ein erfahrener Gartenbauer sagte mir, die Natur lehre ihn alles: die rechte Zeit des Säens, Pflanzens, Erntens und auch in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie lehre ihn geduldig zu sein, aber auch Mut zu haben, wenn Veränderungen anstehen; sie lehre ihn Hingabe und Demut. So sieht man alte Menschen still auf der Bank am Feldrand sitzen, stundenlang, sieht sie dem Wachsen des Kornes folgen, wie auch der Ernte; sieht sie am Fluss sitzen, dem Strömen des Wassers zusehen; sieht sie aufs Meer schauen, den Sonnenaufgängen und den Sonnenuntergängen zugewandt.
Von hier erwächst auch die Fähigkeit, die Einschränkungenzu ertragen, die ein jedes Altern früher oder später mit sich bringt. Sie beginnen bei der nachlassenden Sinnesschärfe, sodass Sehhilfen und Hörhilfen unerlässlich werden, auch um der weiteren Fähigkeit zur Kommunikation willen. Oft werden sie wütend abgelehnt, so vor allem die Hörgeräte, die – anders als die längst akzeptierte Brille – das Alter eines Menschen viel mehr zu dokumentieren scheinen als jene, und die oft auch gewöhnungsbedürftig sind, da sie starke akustische Veränderungen beim Hören der eigenen Stimme und der Stimmen anderer mit sich bringen. Wie köstlich wirkte da die unbefangene Aufforderung jener Gastgeberin bei ihrem 70. Geburtstag an ihre nicht viel jüngeren Gäste, diese sollten jetzt mal alle ihre Hörgeräte einschalten, weil einige Leute etwas vortragen, andere etwas singen wollten. Den Darbietungen sollte man natürlich folgen können. Diese Aufforderung löste allgemeine Heiterkeit aus, und die Hörgeräte wurden unverzüglich in Betrieb gesetzt. Auch eingeschränkte Sehfähigkeit kann sehr große Not bereiten. Die Lesefähigkeit, die Schreibfähigkeit, auch die Fernsehfähigkeit sind eingeschränkt, das Autofahren, ja die Orientierung in der Umwelt sind gefährdet.
Dies alles sind Kleinigkeiten, auch wenn sie bewältigt sein wollen, im Vergleich zu der Gelassenheit, die das Ertragen eines mit Schmerzen verbundenen schweren körperlichen Leidens mit sich bringt. Da sind, um nur ein häufiges Beispiel zu nennen, die Bandscheibenvorfälle oder Wirbelbrüche, die mit monatelangen heftigen Schmerzzuständen verbunden sein können. Ohne ein Nachgeben-Können, ein Sich-lassen-Können, ein Geschehen-lassen-Können des Schmerzes geht es hier nicht. Spezielle Schmerztherapien, ja Schmerzkliniken können lindern, aber nicht heilen. Wer nicht Gelassenheit erlernen kann – bzw. zuvor schon erlernt hat –, ist hier ziemlich verloren. Nachgeben, Sein-lassen-Können, behutsam in den Schmerz hineinspüren, ihn da sein lassen, ihn akzeptieren, darauf käme es an.
Mit Respekt denke ich an eine Frau, die über ein Dreivierteljahr
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