Die innere Freiheit des Alterns
äußerst einfach lebt. Sie behauptet nicht, dass sie heiter sei – aber am Alleinleben liege es nicht. Ihr Mann habe keine Minute allein leben können, habe sie sehr gebraucht; habe sie aber auch geistig sehr angeregt; es sei keine Minute langweilig mit ihm gewesen. Sie habe ihn geliebt, habe sehr um ihn getrauert. Aber am Nicht-allein-leben-Können liege es bei ihr nicht. Sie machealles selbst, was sie zum Leben brauche, auch Kleider, sogar Schuhe wisse sie allein zu flicken. Sie hat starke geistige und kulturelle Interessen. Um ihre Bibliothek könnte man sie beneiden. In der Kunst kennt sie sich aus wie wenige. Wenn bedeutende Ausstellungen in der Nähe sind, wird sie von Freunden und Bekannten regelmäßig gebeten, sie privat zu führen. Am Nicht-allein-leben-Können liegt es nicht: Sie wohnt allein, zugleich mit allen Menschen zusammen, im »Schatzhaus der Menschheit« (so C. G. Jung, vgl. das gleichnamige Kapitel, S. 106 ff.), in der Kultur, die letztlich im kollektiven Unbewussten wurzelt, das alle Menschen auch durch die Zeiten hin miteinander verbindet.
Die Gelassenheit des Alters
Das Wort »Gelassenheit«, für das es keine Entsprechung in anderen Sprachen gibt, hat Meister Eckhart in die deutsche Sprache eingeführt; es ist also im Grunde ein mystischer Begriff, für eine mystische Gabe: für die Fähigkeit, sich selber lassen, loslassen zu können.
Wenn wir uns aber wirklich loslassen könnten, was geschähe dann? Würden wir uns nicht verlieren? Oder würden wir vielleicht nur die Anstrengung verlieren, die es kostet, uns allezeit zu halten, allezeit aufrecht zu halten, Haltung zu bewahren? Würden wir uns verlieren? Ich glaube, eher nein. Wir würden vielmehr bewusst erleben können, dass uns das weiterhin trägt, was uns unbewusst in all unserer Anstrengung, uns aufrechtzuerhalten, schon immer getragen hat: das Leben selbst, das unendlich viel größer und stärker ist als wir und unsere bewussten Anstrengungen. Meister Eckhart würde, so wie er vom »Leben« spricht, auch von »Gott« sprechen können. Ich werde später noch darauf zurückkommen (vgl. das Kapitel »Leben ohne Warum«, S. 164 ff.). Wer es je erfahren hat, dass es Erlebnisse gibt, die uns die bewusste Steuerung aus der Hand reißen, in denen wir unsere Fassung, unsere Haltung verlieren – und wer von uns Älteren hätte das nicht irgendwann erlebt? –, der weiß, dass wir uns dann fallen lassen dürfen, dass andere Menschen, Freunde, ein Arzt oder auch ein vertrautes Lebewesen anderer Art, ein Hund, ein Pferd, ein Baum, ja die Erde, das Meer selbst uns aufnehmen werden, dass einfach »das Leben selbst«, zu dem auch wir und alle hilfreichen Kräfte gehören, uns auffangen wird. Zu solchen im wahren Sinn »erschütternden« Erlebnissen gehören der Verlust geliebter Menschen durch Trennung, Scheidungoder Tod; gehören aber auch schwere Einbrüche in die körperliche oder seelische Gesundheit; in die berufliche und wirtschaftliche Existenz – wie sie alle gerade im Alter geschehen und sich häufen können. Und da gelassen bleiben?
Es geht sicherlich nicht darum, die Erschütterung gar nicht erst zuzulassen oder nicht zuzugeben – gehört doch auch berührbar und verwundbar zu sein und zu bleiben zur inneren Lebendigkeit –; es geht nur darum, die Gelassenheit wiederzufinden, die zur Würde gerade des alternden Menschen gehört.
So darf man es sich bei Konflikten, die einem von anderen aufgenötigt werden, immer mehr zur Regel machen, das Problem zunächst einmal bei dem, bei der, bei denen zu lassen, die dieses Problem vor allem haben und es an uns herantragen, statt es sich sofort selber »anzuziehen«. Das heißt nicht, sich gar nicht darauf einzulassen – soweit wir vielleicht selber einen Anteil daran haben –; es heißt aber, sich nicht damit zu verwickeln, nicht darein zu verbeißen. Und das gilt nicht nur, wenn uns andere etwas antun, uns grob verletzen, sondern auch, wenn uns zum Beispiel die objektive Auswirkung einer Krise, einer Wirtschaftskrise etwa, trifft: Wir sollten uns gerade dieses Problem nicht »anziehen«, indem wir zum Beispiel, wie es so leicht geschieht, uns auch noch daran mitschuldig fühlen und meinen, uns vielleicht nicht voraussehend genug verhalten zu haben. Es kommt dann vielmehr darauf an, alle Kräfte einzusetzen, die zur Behebung des Problems dienen: Es kommt darauf an, nicht in die Opferrolle zu geraten oder gerade darin zu verharren, 103 sondern wieder zur Gestalterin, zum Umgestalter der
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