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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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dauerte Monate, bis ich ihn wiedersah. So viel zum Thema Freundschaft.
    * * *
    Schließlich brachten meine Eltern mich zu einem Seelenklempner namens Dr. Golan, einem ruhigen Mann mit olivenfarbener Haut. Ich sträubte mich nicht. Mir war klar, dass ich Hilfe brauchte.
    Ich hielt mich für einen schwierigen Fall, aber Dr. Golan erzielte überraschend schnell Fortschritte. Die gelassene, emotionslose Art und Weise, mit der er mir Dinge erklärte, hypnotisierte mich geradezu. Nach nur zwei Sitzungen hatte er mich davon überzeugt, dass die Kreatur ein Produkt meiner überreizten Fantasie gewesen sei. Durch das Trauma von Großvaters Tod meinte ich, etwas gesehen zu haben, das nicht wirklich existiert hatte. Dr. Golan erklärte, dass mir Grandpa Portman mit seinen Geschichten diese Kreaturen in den Kopf gesetzt hatte. Deshalb war es nachvollziehbar, dass ich Großvaters Schwarzen Mann heraufbeschwor, als ich mit seinem toten Körper in den Armen dort kniete und benommen war vom größten Schock meines jungen Lebens.
    Ich musste zugeben, dass das logisch klang. Es gab sogar einen Namen dafür: akute Stressreaktion. »Na, da können wir uns doch freuen«, sagte meine Mutter, als sie meine interessante Diagnose hörte. Ihre offenbar humorvoll gemeinte Bemerkung kümmerte mich nicht. So ziemlich alles klang besser, als mir anhören zu müssen, dass ich
verrückt
sei.
    Es ging mir allerdings noch lange nicht gut, nur weil ich die Monster nicht mehr für echt hielt. Nach wie vor wurde ich von Alpträumen heimgesucht. Ich war nervös und litt unter Verfolgungswahn. Es ging mir so schlecht, dass ich Probleme im Umgang mit anderen Menschen bekam. Deshalb engagierten meine Eltern einen Privatlehrer, so dass ich nur an jenen Tagen in die Schule gehen musste, an denen ich mich dazu in der Lage fühlte. Und – endlich! – durfte ich auch bei Smart Aid aufhören. »Mich besser fühlen« wurde zu meinem neuen Job.
    Doch schon bald war ich entschlossen, auch aus diesem gefeuert zu werden. Nachdem die Ursache meiner vorübergehenden Verrücktheit geklärt war, beschränkte sich Dr. Golan auf das Ausstellen von Rezepten. Immer noch Alpträume? Ich verschreibe dir etwas. Panikattacken im Schulbus? Das hier wird helfen. Schlafstörungen? Wir erhöhen die Dosis. Diese Pillen machten mich dick und träge. Elend fühlte ich mich trotzdem noch, und ich schlief nachts höchstens drei oder vier Stunden. Folglich begann ich, Dr. Golan anzulügen. Ich behauptete, dass es mir gutgehe, obwohl jedem auffallen musste, dass ich dunkle Ringe unter den Augen hatte und beim kleinsten Geräusch zusammenfuhr wie eine nervöse Katze. Eine Woche lang dachte ich mir so viele Träume aus, dass man damit eine Zeitschrift über Traumdeutung hätte füllen können. Ich ließ sie klingen wie die Träume eines normalen Menschen, unspektakulär und nichtssagend. In einem Traum ging es um einen Zahnarztbesuch. In einem anderen konnte ich fliegen. Zwei Nächte hintereinander hatte ich angeblich geträumt, nackt in der Schule gewesen zu sein. Irgendwann unterbrach mich Dr. Golan.
    »Was ist mit den Kreaturen?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Spur von ihnen. Das bedeutet dann wohl, dass es mir bessergeht, was?«
    Dr. Golan tippte mit dem Stift auf ein Blatt Papier, dann notierte er etwas. »Ich hoffe, du erzählst mir das nicht nur, weil du denkst, dass ich es hören will.«
    »Natürlich nicht.« Mein Blick schweifte über die gerahmten Zertifikate an der Wand. Allesamt dokumentierten sie Dr. Golans Sachverständnis in unterschiedlichen Teildisziplinen der Psychologie – einschließlich der, dank derer man erkennt, dass man von einem unter akutem Stress leidenden Teenager angelogen wird.
    »Lass uns mal einen Moment lang ehrlich sein.« Er legte den Stift fort. »Du sagst also, du hattest diesen Traum letzte Woche nicht ein
einziges
Mal?«
    Ich war schon immer ein fürchterlich schlechter Lügner. Aber statt es zuzugeben und mich damit bloßzustellen, modifizierte ich meine Aussage. »Na ja«, murmelte ich, »vielleicht einmal.«
    In Wahrheit hatte ich diesen Traum
jede
Nacht gehabt. Mit geringen Variationen lief er in etwa so ab: Ich kauere in der Ecke von Großvaters Schlafzimmer. Schwaches, gelbbraunes Dämmerlicht fällt durchs Fenster, während ich ein rosa Plastikluftgewehr auf die Tür richte. An der Stelle, an der normalerweise das Bett steht, ragt ein riesiger, leuchtender Verkaufsautomat auf. Er ist jedoch nicht mit Süßigkeiten gefüllt,

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