Die Insel der besonderen Kinder
Bücher von Ralph Waldo Emerson ansehen sollte, einem anscheinend berühmten Dichter. »Emerson hat eine Menge Briefe verfasst«, sagte er. »Vielleicht hat sich dein Großvater darauf bezogen.« Es kam mir vor wie ein Tasten im Nebel, aber damit Dr. Golan endlich Ruhe gab, ließ ich mich eines Nachmittags von Dad an der Bücherei absetzen. Ich stellte schnell fest, dass Ralph Waldo Emerson tatsächlich viele Briefe geschrieben hatte, die gesammelt und in Buchform veröffentlicht worden waren. Für etwa drei Minuten war ich richtig aufgeregt, als stünde ich kurz vor dem Durchbruch. Aber dann stellten sich zwei Dinge heraus: Erstens hatte Ralph Waldo Emerson im 19 . Jahrhundert gelebt und konnte unmöglich Briefe geschrieben haben, die auf den 3 . September 1940 datiert waren, und zweitens war seine Literatur so anspruchsvoll und schwer zugänglich, dass sich mein Großvater auch nicht im Geringsten dafür interessiert haben konnte. Ich entdeckte Emersons einschläfernde Qualitäten auf die harte Tour, indem ich mit dem Gesicht auf dem Buch einpennte, einen Essay mit dem Titel
Self-Reliance
vollsabberte, zum sechsten Mal in dieser Woche den Traum mit dem Verkaufsautomaten hatte, schreiend aufwachte und unsanft aus der Bücherei befördert wurde. Ich verfluchte Dr. Golan und seine blöden Ideen.
Der letzte Strohhalm tat sich ein paar Tage später auf, als meine Familie entschied, dass es an der Zeit sei, Grandpa Portmans Haus zu verkaufen. Bevor potenzielle Käufer hineingelassen werden konnten, musste das Haus jedoch entrümpelt werden. Auf Rat von Dr. Golan, der meinte, es sei gut für mich, mit dem »Ort meines traumatischen Erlebnisses konfrontiert zu werden«, sollte ich Dad und Tante Suzie dabei helfen, das ganze Zeug durchzugehen. Nachdem wir schon eine Weile lang im Haus waren, nahm mich Dad beiseite, um zu hören, ob es mir gutging. Überraschenderweise war das so, trotz der Reste von Polizeiabsperrband, das in den Sträuchern hing, und dem zerfetzten Fliegengitter der Verandatür, das im Wind flatterte. Diese Dinge, ebenso wie der gemietete Container, der auf dem Bürgersteig stand und darauf wartete, alles in sich aufzunehmen, was vom Leben meines Großvaters übrig war, machten mich traurig, aber sie ängstigten mich nicht.
Nachdem klar war, dass ich nicht mit Schaum vor dem Mund ausflippen würde, machten wir uns wieder ans Werk und durchkämmten bewaffnet mit Mülltüten das Haus, leerten Regale, Schränke und Kriechböden, entdeckten interessante Gebilde aus Staub unter Gegenständen, die seit Jahren nicht bewegt worden waren. Wir errichteten Pyramiden auf dem Boden mit Dingen, die aufgehoben oder gespendet werden sollten, und andere mit all dem Zeug, das für den Container bestimmt war. Meine Tante und mein Vater waren keine sentimentalen Menschen, und der Stapel für den Container wurde immer höher. Ich setzte mich energisch dafür ein, bestimmte Dinge zu behalten, wie den zweieinhalb Meter hohen Stapel feucht gewordener
National Geographics,
der sich umsturzgefährdet in einer Ecke der Garage türmte. Wie viele Nachmittage hatte ich über diesen Heften gehockt und mir vorgestellt, zwischen den mit Schlamm eingeriebenen Männern eines Eingeborenenstamms in Neuguinea zu stehen oder im Königreich Bhutan zu einem Kloster hoch oben auf einem Felsvorsprung zu steigen! Aber ich wurde wie jedes Mal überstimmt. Ich bekam weder Großvaters Sammlung altmodischer Bowling-Hemden (»Die sind peinlich«, behauptete mein Vater) noch die Big-Band- und Swinging- 78 er-Platten (»Dafür wird jemand gutes Geld zahlen«) oder den Inhalt des immer noch verschlossenen Waffenspinds. (»Du machst Witze, oder? Ich hoffe, dass das ein Witz war!«)
Schließlich warf ich Dad vor, herzlos zu sein. Meine Tante floh vom Ort des Geschehens und ließ uns beide allein im Arbeitszimmer zurück, wo wir uns gerade durch einen Berg Finanzunterlagen arbeiteten.
»Ich denke lediglich praktisch«, erwiderte Dad kühl. »So läuft das nun mal, wenn jemand gestorben ist, Jacob.«
»Ach ja? Und was ist, wenn
du
mal stirbst? Soll ich deine alten Manuskripte dann alle verbrennen?«
Er lief rot an. Das hätte ich nicht sagen sollen – die Schubladen voll halbfertiger Bücher zu erwähnen, war ein Schlag unter die Gürtellinie. Aber statt mich anzuschreien, wurde Dad ganz ruhig. »Ich habe dich heute mit hergenommen, weil ich dachte, dass du erwachsen genug bist, um damit umgehen zu können«, sagte er. »Aber da habe ich mich wohl
Weitere Kostenlose Bücher