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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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geirrt.«
    »Verstehe. Du glaubst, wenn wir Grandpas Zeug wegschmeißen, vergesse ich ihn endlich. Aber das funktioniert nicht.«
    Resignierend hob er die Hände. »Weißt du was? Ich bin diese Streitereien leid. Behalte von dem Zeug, was immer du willst.« Er warf mir ein Bündel vergilbter Blätter vor die Füße. »Hier hast du sämtliche Belege aus dem Jahr von Kennedys Tod. Lass sie dir einrahmen!«
    Ich versetzte den Blättern einen Tritt, stürzte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Dann wartete ich im Wohnzimmer darauf, dass Dad kommen und sich bei mir entschuldigen würde. Doch als ich hörte, wie der Schredder zum Leben erwachte, wusste ich, dass er es nicht tun würde. Also stampfte ich durchs Haus und schloss mich im Schlafzimmer ein. Die abgestandene Luft roch nach Schuhleder und dem leicht säuerlichen Rasierwasser meines Großvaters. Ich lehnte mich an die Wand und folgte mit den Augen dem ausgetretenen Streifen auf dem Teppich zwischen Tür und Bett. Das fahle Sonnenlicht fiel auf die Ecke einer Kiste, die unter dem Bett hervorlugte. Ich kniete mich davor, um mir die Kiste genauer anzusehen. Es war die alte Zigarrenkiste, bedeckt mit einer dicken Staubschicht – als hätte Großvater sie dort zurückgelassen, damit ich sie fände.
    Darin lagen die Fotos, die ich nur allzu gut kannte: der unsichtbare Junge, das schwebende Mädchen, die Felsbrocken stemmenden Geschwister, der Mann mit dem aufgemalten Gesicht auf dem Hinterkopf. Die Bilder waren rissig und verblasst – und auch kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Mit den Augen eines fast Erwachsenen sah ich sofort, wie offensichtlich sie manipuliert worden waren. Ein bisschen Wegätzen und Nachbelichten – mehr war nicht nötig, um den Kopf des »unsichtbaren Jungen« verschwinden zu lassen. Der riesige Felsblock, den der verdächtig dürre Knabe stemmte, konnte problemlos aus Gips oder Schaumstoff hergestellt sein. Aber für einen sechsjährigen Jungen waren solche Beobachtungen zu scharfsinnig – vor allem, wenn er an die Wunder glauben wollte.
    Unter diesen Fotos lagen noch fünf andere, die mir Grandpa Portman nie gezeigt hatte. Ich fragte mich, warum nicht – bis ich mir die Bilder genauer ansah. Sie waren so offensichtlich manipuliert, dass es selbst ein Kind durchschaut hätte: Da war die lächerliche Doppelbelichtung eines Mädchens, das in einer Flasche »gefangen« war, noch ein schwebendes Kind, gehalten von etwas im dunklen Türrahmen hinter ihm, und ein Hund mit dem Gesicht eines Jungen, schlampig aufgeklebt. Als wären diese Aufnahmen nicht bizarr genug, schienen die beiden letzten David Lynchs Alpträumen entsprungen zu sein: Eins zeigte ein Mädchen, das sich als Schlangenmensch auf erschreckende Weise verbog, und das andere sonderbar aussehende Zwillinge, die die merkwürdigsten Kostüme trugen, die ich je gesehen hatte. Selbst mein Großvater, der mir den Floh von tentakelzüngigen Monstern ins Ohr gesetzt hatte, wusste offenbar, dass derartige Bilder jedem Kind Alpträume verursachen würden.

    Die Bilder erinnerten mich daran, wie ich mich an jenem Tag gefühlt hatte, als mir klar wurde, dass Grandpa Portmans Geschichten nicht wahr sein konnten. Auf dem Boden des staubigen Zimmers kniend, fühlte ich mich erneut betrogen. Die Wahrheit lautete offensichtlich: Seine letzten Worte waren lediglich ein weiterer Taschenspielertrick, wie die Fotos. Doch dieser letzte Schachzug hatte mich mit Alpträumen und einem Verfolgungswahn infiziert, was womöglich jahrelanger Therapie und stoffwechselzerstörender Medikamente bedurfte, um überwunden zu werden.
    Ich verbannte die Fotos wieder in die Kiste und brachte sie hinunter ins Wohnzimmer, wo mein Dad und Tante Suzie gerade eine Schublade voller Coupons, die alle sorgfältig zusammengeheftet, aber nie eingelöst worden waren, in einen 60 -Liter-Müllsack kippten.
    Ich warf die Kiste hinein. Sie fragten nicht, was drin war.
    * * *
    »Und das war’s?«, fragte Dr. Golan. »Sein Tod war bedeutungslos?«
    Ich hatte auf der Couch liegend gelogen und währenddessen das Goldfischglas in der Zimmerecke betrachtet, in dem der einsame Bewohner seine Kreise zog. »Es sei denn, Sie haben eine bessere Idee«, antwortete ich. »Irgendeine tolle Theorie zu dem, was ich Ihnen immer wieder erzählen soll. Ansonsten …«
    »Ja?«
    »Ansonsten ist es reine Zeitverschwendung.«
    Er seufzte und kniff sich in den Nasenrücken, als versuche er so, Kopfschmerzen zu vertreiben. »Es

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