Die Insel der besonderen Kinder
einen großen Schluck Wein hinunter.
»Mach es einfach auf, dann wirst du schon sehen«, sagte Tante Suzie.
Ich fegte den letzten Rest Geschenkpapier beiseite und hielt ein altes, gebundenes Buch in der Hand. Der Schutzumschlag fehlte, und viele Seiten hatten Eselsohren. Es waren
Die gesammelten Werke von Ralph Waldo Emerson.
Ich starrte auf das Buch, als versuchte ich, durch den Umschlag hindurchzulesen, und verstand nicht, wie es so plötzlich in meine zitternden Hände gelangt war. Von Grandpas letzten Worten wusste nur Dr. Golan, und der hatte mir mehrfach versichert, dass alles, worüber wir in dem Behandlungszimmer sprachen, der strikten Schweigepflicht unterlag – solange ich nicht damit drohte, Rohrreiniger zu trinken oder mit einer Rolle rückwärts von der Sunshine Skyway Bridge zu springen.
Ich sah meine Tante an, und mir drängte sich eine Frage auf, von der ich nicht wusste, wie ich sie stellen sollte. Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande und sagte: »Ich habe es bei unserer Aufräumaktion im Schreibtisch deines Großvaters gefunden. Er hat deinen Namen hineingeschrieben. Ich nehme an, er wollte, dass du es bekommst.«
Gott segne Tante Suzie. Am Ende hatte sie doch ein Herz.
»Toll! Ich wusste gar nicht, dass dein Großvater gelesen hat«, sagte Mom und versuchte offenbar, die Stimmung aufzulockern. »Wie nett.«
»Ja«, presste mein Dad zwischen den Zähnen hervor. »Danke, Suzie.«
Ich schlug das Buch auf. Bestimmt hatte Großvater in seiner zittrigen Handschrift eine Widmung hineingeschrieben. Ich fand sie auf der Titelseite.
Für Yakob Magellan Portman und all die Welten, die er noch entdecken muss.
Mich mit den Namen berühmter Entdecker zu rufen, war früher ein beliebter Scherz zwischen uns gewesen. Ich befürchtete, vor den Augen aller Gäste in Tränen auszubrechen. Als ich aufstand, um den Raum zu verlassen, rutschte etwas aus den Buchseiten heraus und fiel auf den Boden.
Ich hob es auf. Es war ein Brief.
Emerson. Der Brief.
Mir wich das Blut aus dem Gesicht. Meine Mutter beugte sich zu mir und fragte nervös, ob ich einen Schluck Wasser wolle. Das war Moms Formulierung für:
Reiß dich zusammen, die Leute gucken dich an!
»Ich fühle mich gerade ein bisschen, ähm …« Und dann, eine Hand auf den Bauch gepresst, rannte ich in mein Zimmer.
* * *
Der Brief war auf feinem, unliniertem Papier geschrieben, in einer gewundenen Handschrift, die schon fast kalligraphisch anmutete. Die Stärke der schwarzen Tinte variierte, wie es bei einem alten Füllfederhalter typisch war. Ich las:
Liebster Abe,
ich hoffe, diese Nachricht erreicht dich wohlbehalten und bei bester Gesundheit. Es ist lange her, seit wir den letzten Brief von dir erhielten! Aber ich schreibe nicht, um dich zu tadeln, sondern um dich wissen zu lassen, dass wir immer noch oft an dich denken und für dein Wohlergehen beten. Unser tapferer, stattlicher Abe!
Was das Leben auf der Insel angeht, so hat sich nicht viel verändert. Aber ruhig und geordnet ist es uns ja auch am liebsten. Ich frage mich, ob wir dich nach so vielen Jahren überhaupt noch erkennen würden? Du würdest uns sofort wiedererkennen, das heißt, die wenigen, die geblieben sind. Wir hätten so gern aktuelles Foto von dir! Vielleicht schickst du uns eins? Ich habe einen uralten Schnappschuss von mir beigefügt.
E vermisst dich fürchterlich. Möchtest du ihr nicht mal schreiben?
Mit Respekt & Bewunderung
Schulleiterin Alma LeFay Peregrine
Wie versprochen, hatte die Schreiberin ein Foto dazugelegt.
Ich hielt es unter den Schein meiner Schreibtischlampe und versuchte, in dem sich als Silhouette abzeichnenden Gesicht Einzelheiten zu erkennen. Aber es gelang mir nicht. Es war ein seltsames Bild – wenn auch ganz anders als Großvaters Fotos. Bei dieser Aufnahme gab es keine Tricks. Es war die Aufnahme einer Frau, einer Pfeife rauchenden Frau. Die gebogene, von ihren Lippen herabhängende Pfeife sah aus wie die von Sherlock Holmes. Immer wieder wurde mein Blick davon angezogen.
War es dieser Brief, den ich finden sollte? Ja, dachte ich, das muss es sein – nicht
die
Briefe von Emerson, sondern
ein
Brief, zwischen den Seiten dieser Emerson-Ausgabe. Aber wer war die Schulleiterin, diese Miss Peregrine? Ich suchte auf dem Umschlag nach einem Absender, entdeckte jedoch nur den verblassten Poststempel
Cairnholm Is., Cymru,
UK
.
UK – das war Großbritannien. Aus den Atlanten, die ich als Kind studiert hatte, wusste ich, dass
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