Die Insel der besonderen Kinder
Cymru das walisische Wort für Wales war. Cairnholm Island musste die Insel sein, die Miss Peregrine in dem Brief erwähnt hatte und auf der sie lebte. Ob es wohl dieselbe Insel war, auf der sich mein Großvater als Kind aufhielt?
»Finde den Vogel«, hatte er vor neun Monaten zu mir gesagt. Neun
Jahre
zuvor hatte er geschworen, dass das Kinderheim, in dem er gelebt hatte, von einem Vogel bewacht wurde – einem »Pfeife rauchenden Vogel«. Im Alter von sieben Jahren hatte ich das wörtlich genommen, aber die Schulleiterin auf dem Foto rauchte Pfeife, und ihr Name lautete Peregrine – Habicht. Konnte es sein, dass der Vogel, den ich finden sollte, jene Frau war, die Großvater gerettet hatte – die Leiterin des Kinderheims? Vielleicht lebte sie nach all den Jahren immer noch auf der Insel, mittlerweile steinalt und von ihren Schützlingen betreut. Kinder, die erwachsen geworden, aber nie fortgegangen waren.
Zum ersten Mal ergaben die Worte meines Großvaters einen Sinn, wenn auch einen seltsamen. Er wollte, dass ich auf diese Insel reiste und die Frau aufsuchte, seine alte Schulleiterin. Wenn irgendjemand die Geheimnisse seiner Kindheit kannte, dann war sie es. Aber der Stempel auf dem Umschlag war fünfzehn Jahre alt. War es wirklich möglich, dass sie noch lebte? Ich rechnete im Kopf nach: Wenn sie 1939 ein Waisenhaus geleitet hatte und zu dem Zeitpunkt, sagen wir mal, fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war, dann musste sie jetzt über neunzig sein. In Englewood gab es Leute, die älter waren und sich sogar noch hinters Steuer ihres Wagens setzten. Aber selbst wenn Miss Peregrine während der vergangenen fünfzehn Jahre gestorben war, gab es auf Cairnholm vielleicht andere Menschen, die mir helfen konnten. Die Grandpa Portman als Kind gekannt hatten und den Schlüssel zu seinen Geheimnissen besaßen.
Wir,
hatte sie geschrieben.
Die wenigen, die geblieben sind.
Da wusste ich, dass ich auf diese Insel reisen musste.
* * *
Es war keine leichte Aufgabe, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich einen Teil des Sommers auf einer winzigen Insel vor der walisischen Küste verbringen wollte. Vor allem meine Mutter brachte jede Menge zwingende Gründe vor, warum diese Idee verrückt sei. Neben den Kosten und der Tatsache, dass ich den Sommer bei Onkel Bobby verbringen sollte, um zu lernen, wie man ein Drogerie-Imperium leitet, führte sie ins Feld, dass es niemanden gab, der mich begleiten konnte. Meine Eltern zumindest hatten wenig Lust dazu. Es fiel mir schwer, ihre Argumente zu entkräften, und den wahren Grund für diese Reise konnte ich nicht nennen. Wenn ich ihnen von Grandpa Portmans letzten Worten oder dem Brief oder dem Foto erzählte, ließen sie mich ganz bestimmt einweisen. Die einzigen Gründe, die ich anbringen konnte, waren Dinge wie: »Ich möchte mehr über die Geschichte meiner Familie erfahren«, und das wenig wirkungsvolle: »Chad Kramer und Josh Bell fliegen auch diesen Sommer nach Europa, warum darf
ich
nicht?« Letzteres brachte ich so häufig wie möglich vor. Einmal ließ ich mich jedoch hinreißen und sagte: »Es ist ja nicht so, als hättet ihr das Geld nicht« – eine Taktik, die ich sofort bereute. Meine Chancen standen schlecht.
Doch dann ereigneten sich verschiedene Dinge, die sich für mich als nützlich erwiesen. Zum einen bekam Onkel Bobby kalte Füße, was meinen Sommeraufenthalt bei ihm betraf – wer will schon einen Verrückten in seinem Haus einquartieren? Damit war dieser Plan hinfällig. Am nächsten Tag erfuhr mein Dad, dass Cairnholm Island ein bedeutendes Vogelparadies war. Etwa die Hälfte der weltweiten Population eines bestimmten Vogels, der ihm geradezu eine ornithologische Erektion verschaffte, lebte dort. Er sprach immer öfter von seinem neuen Buchprojekt, und ich gab jedes Mal mein Bestes, ihn zu ermutigen und interessiert zu klingen. Aber der wichtigste Beitrag kam von Dr. Golan. Es brauchte gar nicht viel Engagement meinerseits – er überraschte uns alle, indem er die Idee nicht nur für gut befand, sondern meine Eltern dazu drängte, mich fahren zu lassen.
»Es könnte wichtig für ihn sein«, sagte er eines Nachmittags nach einer Sitzung zu meiner Mutter. »Dieser Ort wurde von seinem Großvater sehr verklärt. Ein Besuch kann dazu beitragen, alles zu entmystifizieren. Jacob wird sehen, dass es dort genauso normal und reizlos ist wie überall. Die Fantasien seines Großvaters werden infolgedessen ihre Macht verlieren. Es könnte eine wirksame
Weitere Kostenlose Bücher