Die Insel der besonderen Kinder
Methode sein, die Obsession mit der Realität zu bekämpfen.«
»Aber ich dachte, er würde gar nicht mehr an dieses Zeug glauben«, sagte meine Mutter und wandte sich mir zu. »Oder doch, Jake?«
»Tue ich nicht«, versicherte ich ihr.
»Bewusst tut er das auch nicht«, sagte Dr. Golan. »Es ist sein
Un
bewusstes, das ihm diese Probleme bereitet. Die Träume, die Ängste.«
»Und Sie glauben wirklich, dass es ihm helfen würde, dorthin zu fahren?«, fragte meine Mutter und verengte die Augen. Wenn es darum ging, was ich tun oder nicht tun sollte, waren Dr. Golans Worte Gesetz.
»Ja«, antwortete er.
Mehr war nicht nötig.
* * *
Danach fügte sich alles in einem erstaunlichen Tempo. Flugtickets wurden gekauft, andere Termine verschoben, Vorbereitungen getroffen. Mein Dad und ich wollten für zwei Wochen im Juni fliegen. Ich fand das zu lang, aber er behauptete, er brauche mindestens so viel Zeit, um die Vogelkolonien auf der Insel zu studieren. Ich hatte erwartet, dass Mom protestieren würde – zwei ganze Wochen! –, aber je näher die Reise rückte, desto mehr schien sie sich für uns zu freuen. »Meine beiden Männer«, sagte sie strahlend, »gemeinsam auf großer Abenteuerfahrt.«
Ihre Begeisterung rührte mich. Bis ich eines Nachmittags ein Telefongespräch mit anhörte, bei dem sie zu ihrer Freundin sagte, wie froh sie darüber sei, »mal an mich denken zu können und nicht ständig zwei kleine Kinder versorgen zu müssen«.
Ich liebe dich auch,
wollte ich ihr mit so viel verletzendem Sarkasmus, wie ich nur aufbringen konnte, zuschreien. Aber sie hatte mich nicht bemerkt, also schwieg ich. Natürlich liebe ich sie, aber vor allem deshalb, weil es vorgeschrieben ist, seine Mom zu lieben. Und ganz sicher nicht deshalb, weil sie ein Mensch ist, der mir sympathisch wäre, wenn ich ihm auf der Straße begegnete. Aber das würde sowieso nie passieren. Sie war nämlich der Meinung, dass zu Fuß gehen etwas für arme Menschen sei.
In den drei Wochen nach Schulschluss und bis zu unserer Abreise gab ich mein Bestes, um herauszufinden, ob Miss Alma LeFay Peregrine noch unter den Lebenden weilte. Aber die Internetrecherche ergab nichts. Im Fall, dass sie noch lebte, hätte ich die Chance gehabt, sie vorher ans Telefon zu bekommen, um meinen Besuch anzukündigen. Doch auf Cairnholm Island jemanden mit einem Telefonanschluss zu finden, erwies sich als nahezu unmöglich. Schließlich entdeckte ich eine einzige Nummer, also rief ich dort an.
Es dauerte fast eine Minute, bis die Verbindung hergestellt war, es rauschte und knisterte in der Leitung, wurde still, knisterte dann wieder. Ich spürte jede Meile der weiten Entfernung, die mein Anruf zurücklegte. Endlich hörte ich diesen sonderbaren europäischen Klingelton. Ein Mann meldete sich.
»Piss Hole!«, brüllte er lallend in den Hörer. Im Hintergrund war heilloser Lärm zu vernehmen, dumpfes Gegröle, wie man es auf dem Höhepunkt einer Party in einem Verbindungshaus erwarten würde. Ich nannte meinen Namen, bezweifelte jedoch, dass er mich hören konnte.
»Piss Hole!«, brüllte er noch einmal. »Wer ist dran?« Aber bevor ich antworten konnte, hielt er offenbar den Hörer vom Kopf weg und schrie jemand anderen an: »Klappe halten, habe ich gesagt, ihr dämlichen Bastarde, ich telefo-«
Und dann war die Leitung tot. Den Hörer an mein Ohr gepresst, saß ich noch einen Moment lang da und legte dann auf. Ich ersparte es mir, die Nummer noch einmal zu wählen. Falls Cairnholms einziger Telefonanschluss in einem Sündenpfuhl genannt »Pissloch« existierte, wie mochte dann der Rest der Insel aussehen? Würde meine erste Europareise darin bestehen, betrunkenen Wahnsinnigen aus dem Weg zu gehen und Vögel dabei zu beobachten, wie sie am felsigen Strand ihren Darm entleerten? Vielleicht. Aber wenn ich dadurch endlich Großvaters Geheimnis ad acta legen und mein langweiliges Leben zurückbekommen konnte, so war es das wert.
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3. Kapitel
D er dichte Nebel umgab uns wie eine undurchdringliche Wand. Als der Kapitän verkündete, dass wir fast am Ziel seien, dachte ich, er wolle uns auf den Arm nehmen. Alles, was ich von dem schwankenden Deck der Fähre aus sah, war ein grauer Schleier. Ich umklammerte die Reling, starrte in die grünen Wellen und dachte an die Fische, die vielleicht schon bald in den Genuss meines Frühstücks kommen würden. Mein Vater stand in einem kurzärmeligen Hemd neben mir und bibberte. Ich hätte nie gedacht, dass es im Juni so
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