Die Insel der besonderen Kinder
verschmiert. Wenn man einmal von seinem pummeligen Gesicht absah, hätte er ein Kaminkehrer aus
Oliver Twist
sein können.
»Du hast die gemacht?«, fragte ich beeindruckt. »Wie denn?«
»Es sind Homunkuli«, antwortete er. »Manchmal setze ich ihnen Puppenköpfe auf, aber dieses Mal war ich in Eile und habe mich nicht damit aufgehalten.«
»Was sind Homunkuli?«
»Die Mehrzahl von Homunkulus«, sagte er, als wisse das doch jeder Idiot. »Manche Leute meinen, es hieße Homunkules, aber das klingt albern. Meinst du nicht auch?«
»Absolut.«
Der Tonsoldat, den ich zurückgebracht hatte, wollte schon wieder ausbüxen. Enoch stupste ihn zur Gruppe. Sie schienen verrücktzuspielen, prallten gegeneinander wie aufgeregte Atome. »Kämpft, ihr Schwächlinge!«, befahl er ihnen. Erst jetzt erkannte ich, dass die Soldaten keineswegs nur gegeneinanderstießen, sondern schlugen und traten. Nur mein Tonsoldat interessierte sich nicht fürs Kämpfen. Als er wieder abhauen wollte, schnappte Enoch ihn sich und riss ihm die Beine ab.
»So ergeht es Deserteuren in der Armee!«, schrie er und warf die verkrüppelte Figur ins Gras, wo sie sich auf groteske Weise krümmte, als die anderen über sie herfielen.
»Behandelst du alle deine Spielzeuge so?«
»Wieso?«, fragte er. »Tun sie dir etwa leid?«
»Keine Ahnung. Sollten sie?«
»Nein. Ohne mich wären sie ja gar nicht lebendig.«
Ich lachte, und Enoch sah mich böse an. »Was ist daran so lustig?«
»Du hast einen Witz gemacht.«
»Du bist ganz schön begriffsstutzig, wie?«, sagte er. »Sieh her.« Er schnappte sich einen der Soldaten und zog ihm die Kleidung aus. Dann brach er ihn in der Mitte durch und holte aus der teigigen Brust ein winziges, zuckendes Herz. Der Soldat erschlaffte. Enoch hielt das Herz zwischen Zeigefinger und Daumen, damit ich es mir ansehen konnte.
»Es stammt von einer Maus«, erklärte er. »Das ist meine besondere Gabe – dem einen das Leben nehmen und es einem anderen geben, zum Beispiel einer Tonfigur oder einem Wesen, das mal gelebt hat und jetzt nicht mehr.« Er stopfte sich das Herz, das aufgehört hatte zu schlagen, in den Overall. »Sobald ich herausgefunden habe, wie ich sie gescheit ausbilden kann, werde ich eine ganze Armee aufbauen. Aber eine, die
so
mächtig ist.« Er hob den Arm über den Kopf, um mir zu zeigen, wie mächtig.
»Und was kannst
du?
«, fragte er.
»Ich? Nichts. Ich meine, nicht so etwas Besonderes wie du.«
»Schade«, antwortete er. »Wirst du trotzdem bei uns leben?« Es klang nicht so, als würde er es sich wünschen, er schien einfach nur neugierig zu sein.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Das war natürlich gelogen. Ich hatte darüber nachgedacht, aber mehr in Form von Tagträumen.
Er beäugte mich misstrauisch. »Aber du willst schon?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Er verengte die Augen und nickte bedächtig, als hätte er mich soeben durchschaut.
Dann beugte er sich vor und flüsterte mir zu: »Hat Emma dir von dem Überfall auf das Dorf erzählt?«
»Von welchem Überfall?«
Er sah fort. »Ach, nichts. Ist nur so ein Spiel, das ein paar von uns spielen.«
Mich beschlich das vage Gefühl, dass mir etwas angehängt werden sollte. »Sie hat mir nichts gesagt«, antwortete ich.
Enoch beugte sich zu mir. »Darauf wette ich«, sagte er. »Ich bin sicher, dass es eine Menge Dinge über diesen Ort gibt, von denen sie nicht will, dass du sie erfährst.«
»Ach ja? Und warum?«
»Weil du dann rausbekommst, dass es längst nicht so toll ist, wie dir alle weismachen wollen, und du dann nicht bleiben willst.«
»Was für Dinge?«, fragte ich.
»Das darf ich dir nicht verraten«, sagte er und schenkte mir ein teuflisches Grinsen. »Ich könnte große Schwierigkeiten bekommen.«
»Wie auch immer«, erwiderte ich, »du hast davon angefangen.«
Ich stand auf, um zu gehen. »Warte!«, rief er und hielt mich am Ärmel fest.
»Warum, wenn du mir doch nichts erzählst?«
Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Stimmt schon, es ist mir nicht erlaubt, etwas zu
sagen …
aber ich kann dich sicher nicht davon abhalten, nach oben zu gehen und einen Blick in das Zimmer am Ende des Flurs zu werfen.«
»Wieso?«, fragte ich. »Was ist da drin?«
»Mein Freund Victor. Er möchte dich kennenlernen. Geh rauf und unterhalte dich mit ihm.«
»Na schön«, sagte ich. »Das werde ich tun.«
Ich ging schon in Richtung Haus, als Enoch mich mit einem Pfiff dazu veranlasste,
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