Die Insel der besonderen Kinder
entdeckte. Sie war mit einer Kordel verschnürt, und in verschmierten Buchstaben stand darauf:
Privat
Briefe von Emma Bloom
Nicht öffnen
Das war so, als würde man vor einem Stier mit einem roten Tuch herumwedeln. Ich setzte mich hin, stellte die Schachtel auf meinen Schoß und zog die Schleife auf. Die Schachtel war voller Briefe – alle von meinem Großvater.
Mein Herz begann zu rasen. Das war genau jene Goldmine, die ich in dem alten Haus zu finden gehofft hatte. Natürlich fühlte ich mich mies dabei, so herumzuschnüffeln, aber wenn die Leute derart massiv darauf bestehen, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, dann musste ich eben alles selbst herausfinden.
Am liebsten hätte ich sämtliche Briefe gelesen, aber ich fürchtete, jemand könnte hereinkommen und mich erwischen. Also blätterte ich sie rasch durch, um mir einen Überblick zu verschaffen. Viele stammten aus den Anfängen der 1940 er Jahre, während Grandpa Portmans Zeit in der Armee. Stichprobenartig las ich einige. Sie waren lang, kitschig, voller Liebeserklärungen und unbeholfener Beschreibungen von Emmas Schönheit, geschrieben in dem damals gebrochenen Englisch meines Großvaters (»Du bist schön wie Blume, riechst gut auch, darf ich dir pflücken?«). Einem Brief hatte er ein Foto von sich beigefügt. Er posierte über einer Bombe, die Zigarette im Mundwinkel.
Mit der Zeit wurden die Briefe seltener und kürzer. Als die 1950 er Jahre begannen, war es vielleicht noch einer pro Jahr. Der letzte stammte vom April 1963 . In dem Umschlag steckten ein paar Fotos, aber kein Brief. Zwei waren von Emma, Schnappschüsse, die sie ihm geschickt hatte und die er ihr zurücksandte. Das erste Bild musste älter sein und war eine witzige Antwort auf seines mit der Bombe: Es zeigte Emma beim Kartoffelschälen und mit einer von Miss Peregrines Pfeifen im Mund. Das nächste Bild war trauriger, und ich vermute, sie hatte es geschickt, nachdem mein Großvater eine Weile lang nicht geschrieben hatte. Das letzte Foto zeigte meinen Großvater in mittleren Jahren mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm.
Ich starrte dieses Bild eine Minute lang an, bis ich das kleine Mädchen erkannte. Es war meine Tante Suzie, damals vielleicht vier Jahre alt. Das war der letzte Brief. Ich fragte mich, wie oft Emma ihm wohl noch geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu bekommen. Und was mochte er mit ihren Briefen getan haben? Hatte er sie fortgeworfen? Irgendwo versteckt? Einen dieser Briefe mussten mein Vater und Tante Suzie gefunden haben. Sie hatten Grandpa deshalb für einen Lügner und Ehebrecher gehalten. Wie sehr sie sich doch geirrt hatten.
Ich hörte, wie sich jemand hinter mir räusperte. Als ich den Kopf wandte, sah ich Emma wütend in der Tür stehen. Ich lief rot an und schob rasch die Briefe zusammen. Aber es war zu spät. Sie hatte mich erwischt.
»Es tut mir leid. Das ist nicht in Ordnung.«
»Allerdings«, erwiderte sie. »Aber lass dich bloß nicht stören.« Sie marschierte zur Kommode, riss eine Schublade heraus und warf sie vor mir auf den Boden. »Und wenn du schon dabei bist, warum siehst du dir nicht auch noch meine Unterwäsche an?«
»Es tut mir ehrlich leid«, wiederholte ich. »So etwas tue ich sonst nie.«
»Sollte mich das überraschen? Vermutlich bist du zu sehr damit beschäftigt, Mädchen heimlich durchs Fenster zu beobachten!« Sie ragte neben mir auf, zitternd vor Wut, während ich hektisch versuchte, die Briefe in die Schachtel zu stopfen.
»Es gibt ein System. Gib sie her, du bringst alles durcheinander!« Sie setzte sich hin, stieß mich beiseite und leerte die Schachtel auf dem Boden aus. Mit der Geschwindigkeit einer Postangestellten sortierte sie die Briefe dann in Stapel. Es schien mir das Beste, meine Klappe zu halten, also sah ich ihr nur kleinlaut bei der Arbeit zu.
Nachdem sie sich wieder ein bisschen beruhigt hatte, sagte sie: »Du wolltest über Abe und mich Bescheid wissen, stimmt’s? Du hättest fragen können.«
»Ich wollte nicht neugierig sein.«
»Das bezweifle ich in Anbetracht der Situation. Also, was willst du wissen?«
Ich überlegte und wusste nicht recht, womit ich anfangen sollte. »Einfach nur … was passiert ist.«
»Na gut. Überspringen wir all die Nettigkeiten und kommen direkt zum Ende. Es ist ganz einfach, wirklich. Er hat gesagt, dass er mich liebt und eines Tages zurückkommt. Aber das ist nie geschehen.«
»Aber er musste gehen, oder? Um zu kämpfen.«
»
Musste
er? Ich weiß es nicht.
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