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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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aufzuhängen, damit die Veränderung so unauffällig wie möglich blieb.
    »Niemand sieht sich diese
Dinge genau an. Die vornehmeren Leute sagen Ah, ein Tiger fell, und
damit hat sich's, und auf jeden Dienstboten, der fragt Hatte das Ding nicht
Krallen ? kommen zwei, die darauf antworten Du
bist ja verrückt«, bemerkte Meister Li zuversichtlich.
    Er breitete weitere
Vorhänge aus, bis ein Pfad zu der kleinen Tür entstanden war, die zum
Mittelturm führte. Als er feststellte, daß die Tür nicht verriegelt und mit
einem Dietrich leicht zu öffnen war, stieß er einen tiefen Seufzer der
Erleichterung aus. »Ochse, tunke die Tatzen in Blut und zeichne damit gut
sichtbare Spuren eines mörderischen Katzentiers«, befahl er. »Sorge dafür, daß
es so aussieht, als hätte der Tiger die Vorhänge heruntergerissen, als er die
Männer im Raum herumjagte und mach Fußspuren darauf. Vergiß die blutigen
Abdrücke auf den Leichen nicht und arbeite dich dann bis zu dieser Tür hin. Ich
bin so bald wie möglich wieder zurück .«
    Während ich seine
Anweisungen befolgte, grübelte ich darüber nach, wie es sein konnte, daß er
glaubte, mit dieser Geschichte davonzukommen. Tiger durchschwimmen weder
Wassergräben, noch erklimmen sie senkrechte Mauern oder bahnen sich einen Weg
durch Höfe und Paläste, in denen es von Menschen wimmelt. Dennoch war ich nicht
so dumm, zu behaupten, daß es unmöglich war. Wenn Meister Li es für machbar
hielt, dann war es machbar. Es gelang mir, mich mit diesem Gedanken ein wenig
aufzuheitern, aber ich hätte zu diesem Zeitpunkt doch nicht geglaubt, wie
einfach es in Wahrheit sein und welch eine glückliche Wendung der Dinge es
herbeiführen würde.
    Ich bewunderte gerade mein
Werk, als die kleine Tür zum Mittelturm aufging und wie erwartet Meister Li
auftauchte, und mit ihm jemand, den ich ganz sicher nicht erwartet hatte. Der
alte Mann hatte die Tochter des Banditenchefs mitgebracht. Man hatte sie für zu
schwach gehalten, um sich ein Schauspiel anzusehen, das ohne weiteres drei
Stunden dauern mochte. Jetzt weiteten sich ihre Augen beim Anblick der blutigen
Szenerie. Dann zog sie mit einem Fauchen blitzschnell einen äußerst gefährlich
aussehenden Dolch aus dem Gewand, und im nächsten Augenblick spürte ich ihn an
meiner Kehle.
    »Ein Liebhaber sollte nicht
allzu anmaßend werden«, knurrte sie. »Ich habe dir ein paar Minuten in meinem
Bett gewährt, aber keinen Anspruch auf das Amt des Gouverneurs von Yen-men !« »Verehrte Dame, Ochse ist zwar stark, aber so stark nun auch wieder nicht«, warf Meister Li beschwichtigend ein. »Ein
Ungeheuer, das zufällig ein Freund von uns ist, hat die Beherrschung verloren,
nicht Ochse. Wir dachten, es wäre keine schlechte Idee, einem Tiger die Schuld
in die Schuhe zu schieben. Hübsche Tatzenabdrücke, findet Ihr nicht ?«
    Die Dolchspitze entfernte
sich ein Stück weit von meinem Hals, aber nicht weit genug. Die Augen der Witwe
waren mißtrauisch auf Meister Li geheftet.
    »Mir wollte scheinen,
verehrte Dame, daß ein Tiger in mehr als einer Hinsicht nützlich wäre«, fuhr
Meister Li fort. »Während ich Euch behandelte, ist mir Euer Amulett
aufgefallen. Ihr seid im Jahr des Tigers geboren, und die Götter sind nicht
unbedingt von vornehmer Zurückhaltung, wenn sie ihren Willen deutlich machen
wollen. Sehr wahrscheinlich wünschen sie, daß Ihr Euch mit einem anderen Mann
verheiratet und Helden großzieht .« In seiner Stimme
schwang halb die Beschwörung des Schamanen, halb die Weisheit des klugen
Ratgebers, und aus irgendeinem Grund wirkten seine Worte vor dem Hintergrund
des ausgelassenen Gelächters nicht makaber, sondern eher bedeutungsvoll.
»Jetzt, da Ihr keinen Gatten mehr habt«, bemerkte er weiter, »wird man von Euch
verlangen, daß Ihr Euch zwischen frommer konfuzianischer Witwenschaft und einem
priesterlichen Dispens entscheidet, dem eine Heirat wie die vorherige folgen
würde: eine Geschäftsverbindung, die der Vermehrung des Vermögens Eures Vaters
dient. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, sofern die Braut die
Möglichkeit hat, sich ihren zukünftigen Ehegatten selbst auszuwählen.
Entscheidend für diese glückliche Voraussetzung ist unsere freie und
unbehelligte Abreise .«
    Ich wußte, daß er gewonnen
hatte, als sie den Dolch wegsteckte, aber ihre folgenden Worte hatte ich ganz
und gar nicht erwartet. »Auf einen Mord war ich nicht gefaßt, aber ich muß
zugeben, daß ich das Ungeheuer gesehen habe. Als es über die Mauer

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