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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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kletterte,
kam es dicht an meinem Fenster vorbei .« Sie warf einen
Armvoll Bambus ins Feuer. »Der Mond beleuchtete sein buntes Gesicht, das
wirklich unverwechselbar ist. Es ist zwar gefährlich für euch, Neids Freund zu
sein, aber ich denke, es ist nichts Unehrenhaftes daran .« Ich hätte vielleicht eine törichte Bemerkung gemacht, aber Meister Li war nah
genug, um mir gegen den Knöchel treten zu können. »Ah, ihr kennt ihn !« rief er in freudiger Überraschung aus. »Das kann man nur
von den wenigsten sagen. Außer natürlich von den Besitzern der Käfige.«
    Sie beachtete den
ausgeworfenen Köder nicht, sondern schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich habe
nicht gesagt, daß ich ihn kenne. Ich habe die alten Abbildungen im Land meines
Vaters gesehen, und man hat mir die Verse vorgelesen, das ist alles. Und jetzt
will ich Genaueres darüber hören, was ihr im Schilde führt«, sagte sie mit
fester Stimme.
    Meister Li erzählte es ihr
also, und ich machte klebrige rote Tigerspuren, die die Turmtreppe
hinunterführten und durch verschiedene Räume, auch einen Gang entlang, der nur
der jungen Witwe und einigen höheren Beamten bekannt war. Ich vermute, daß die
Geschichte inzwischen die Runde in allen Dörfern von hier bis zu den
Sabinerbergen gemacht hat: Wie eine schöne Prinzessin gegen ihren Willen
verheiratet und in ein ihr verhaßtes Land verschleppt wurde, wie ein Tiger mit
übernatürlichen Kräften den geheimen Fluchtweg aus dem Palast des Bräutigams
geöffnet hatte (die Tür wurde später offen vorgefunden, und blutige
Tatzenspuren führten ins Freie), und wie er den nichtswürdigen Gesellen und all
seine Männer zerfleischt hatte; wie die Prinzessin beim Erwachen die Hälfte
eines in merkwürdiger Form entzweigerissenen Ehevertrages mit dem blutigen
Abdruck einer Tigertatze auf ihrem Kopfkissen fand, wie ein großer Schamane aus
Schafgarbenblättern gelesen und erklärt hatte, daß die Prinzessin als Kind vom
Geist ihres Großvaters einem Tigergeist versprochen worden war und wie ihre
kurze Witwenschaft durch das Erscheinen eines Prinzen (dessen breite Brust vor
lauter Orden gar nicht zu sehen war) beendet wurde, eines Prinzen, der bei
seiner Geburt ein in merkwürdiger Form entzweigerissenes Pergament in der Hand
gehalten hatte, und - man höre und staune - es war die Hälfte eines
Ehevertrages mit einer Tigertatze darauf...
    Es spielt keine Rolle, daß
die Dame den Glücklichen noch nicht erwählt hat (jedenfalls ist mir nichts
davon zu Ohren gekommen), denn nicht einmal ihr Vater würde es wagen, einen
Tigergeist zu verärgern. Sie kann sich so viel Zeit lassen, wie sie will, um
die Anwärter einer genauen Prüfung zu unterziehen. Ich hoffe, daß sie ihren
Spaß hat, und nehme an, daß die Geschichtenerzähler, denen es im Gegensatz zu
den Historikern erlaubt ist, zu streichen, klug genug sind, die Sache mit den
Kaulquappen auszulassen. Wir hatten keine Schwierigkeiten. Die trauernde Witwe
nahm sich aller notwendigen Maßnahmen an, erteilte Anweisungen nach allen
Seiten, und Neokonfuzianer, die sich ob dieser Anmaßung eines niederen Weibes
empörten, erhielten weiße, hölzerne Visi-tenkärtchen, auf die eine Tigertatze
aufgedruckt war, worauf die Proteste verstummten. Am nächsten Vormittag rollte
Yen Shihs Wagen ungehindert über die Zugbrücke. Ich saß neben dem Puppenspieler
auf dem Bock, während Meister Li und Yu Lan uns auf Eseln folgten, die mit
Geschenken beladen waren. Wir hielten uns an die Erklärungen der Tochter des
Banditenchefs, in dessen Gebiet wir uns bald wieder befanden.
    Wir kletterten eine enge
Schlucht hinunter, in der das helle Sonnenlicht wie in einem langen,
schlitzartigen Mund zu verschwinden schien. Zikaden gaben sich alle Mühe, zu
demonstrieren, warum sie Scherenschleifer genannt werden, und Eidechsen
mit Augen wie Korallen, Achate und Türkise richteten sich auf, um zuzusehen,
wie Yu Lan das feng-shui (Wind und Wasser) der Gegend zu
erfassen suchte. Die totemistische Anordnung zweier aufragender Steinquader
beunruhigte sie sichtlich. »Eurer Beschreibung nach ist das Wesen namens
Neid maskulin, aber diese Stelle hier ist von Yin beherrscht und nicht
von Yang«, erklärte sie uns mit Verwunderung in der Stimme. »Die Totems sind
nicht stolz und phallisch, sondern eher demütig und gebeugt, und sie scheinen
mit Absicht so entworfen zu sein. Aber warum sollte das Grab eines Affenmannes
nahelegen, daß man auf Knien an weiblich geprägtem Ort herumrutscht ?«
    Meister Li

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