Die Insel der Mandarine
musterte prüfend
die Karte, die ihm die Frau des Großen Gouverneurs gegeben hatte.
»Das hier ist die Stelle,
eindeutig«, sagte er. »Yen Shih?« Der Puppenspieler lächelte und machte eine
elegante Geste, wie einer, der den Kelch weiterreicht. »Meine Tochter ist die
Expertin, ich kann nur eine Vermutung äußern, die sich mir unwillkürlich
aufgedrängt hat .« Er vollendete die Handbewegung mit
zu den Totems erhobenem Zeigefinger. »Auf mich machen sie den Eindruck, als
seien sie nicht ausschließlich symbolisch oder ausschließlich gegenständlich zu
verstehen, sondern als irgend etwas , das dazwischen
liegt. So etwas wie eine primitive Schrift zum Beispiel.« Meister Li grinste.
»Mein Freund, ich fange an zu glauben, daß unser Verstand sich im Gleichschritt
bewegt«, sagte er. »Ich vermute, daß es eine Art Piktogramm ist, genauer
gesagt, das Piktogramm eines Trauernden, der mit gesenktem Kopf neben einem
Leichnam kniet, was in der frühesten uns bekannten Schrift der Shang-Dyna-stie
ein Wort darstellt. Das Wort ist Tod. Yu Lan, was meinst du ?«
»Ja, das wäre möglich«,
erklärte sie. »Mit dem Land der Schatten sind viele Göttinnen verknüpft, was
das weibliche Übergewicht in der Geomantik erklären würde. Das sagt allerdings
noch nichts über einen Mann mit dem Gesicht eines bemalten Affen .« Mich interessierte vor allem, ob der tödliche Einfluß auf
uns gerichtet war oder nicht, aber ich brachte es fertig, den Mund zu halten.
Als wir ausschwärmten, um nach den Merkmalen zu suchen, die uns die Witwe des
Großen Gouverneurs genannt hatte, verloren wir die Tatsache nicht aus den
Augen, daß sie seit zehn Jahren nicht mehr hier gewesen war und
Überschwemmungen oder Felsstürze das Erscheinungsbild der Umgebung erheblich
verändert haben konnten. Sie hatte sich jedoch an eine Felsfläche erinnert, die
von einer weißen Narbe gezeichnet war, und als ich mich mit einer Hacke durch
hohes Distelgestrüpp arbeitete, sprang mir diese Stelle plötzlich ins Auge. Der
bleiche Strich, entstanden dadurch, daß Schiefer von dem rötlichen Gestein
abgebröckelt war, sollte fast genau auf den Eingang deuten, den wir suchten.
Ich rief die anderen herbei, nahm einen größeren Stock und hieb damit eine
Schneise in das Gestrüpp. Es dauerte keine zehn Minuten, bis wir den kleinen
runden Einstieg in der Seitenwand der Schlucht entdeckten, genau wie es uns beschrieben worden war. Schon wollten wir die Fackeln, die
wir mitgebracht hatten, entzünden, als wir zu unserer Überraschung
feststellten, daß wir sie nicht benötigten. Ungefähr fünfzehn Fuß hinter dem
Eingang der kleinen Höhle befand sich ein natürlicher Schacht, durch den
Tageslicht hereinfiel. Die Höhle war erleuchtet wie die Gänge einer Galerie,
und zu beiden Seiten befanden sich Felsenreliefs. Ungefähr ein Drittel der
Reliefs bestand aus Bildern, der Rest waren Piktogramme. Meister Li war
begeistert.
»Es ist eine frühe Form des
Buchs der Oden !« erklärte er strahlend. »Es kommt den
schamanischen Abschnitten, die man die Neun Lieder nennt, sehr nah, erzählt jedoch
seine Geschichte mit ganz anderem Schwerpunkt als alle später gefundenen
Versionen .«
Von dem Weisen übersetzt,
entfaltete sich die alte Bilderschrift zu einer Geschichte, die in manchen
Teilen sehr wirklichkeitsnah war. Es waren Worte eines Mädchens, das von einem
Gott verführt worden war:
»Sein Geist stieg herab
wie eine dichte Wolke,
Erhellt durch eine
Stimme voll flammender Kraft:
Schönheit trifft
unfehlbar den für sie Bestimmten,
Denn so ein zauberhaftes
Wesen kann nicht ohne Liebsten sein !
So kam er mit süßen
Worten, ohne Worte ging er davon,
Flog hoch empor,
schwebte auf reinem Nebel, ließ unter sich zurück
Einen beschmutzten Rock
in liederlich sich bauschenden Falten.
Eilig, Herr, will
ich dir folgen!
Will mit dir über die
K'ung-sang-Berge gehn!
Zeig mir das blühende
Volk der Neun Länder !
Doch mein Herr reitet
auf dem Wirbelwind, von
Wolkenbannern umweht.
Ich will deinen Leib
im Himmelsteich baden!
Ich will dein Haar am
Sonnenufer trocknen!
Ich will süße Blumen
pflücken,
um Kränze für den
Geliebten zu binden !
Wild schreie ich mein
Lied in den Wind, Da stehe ich und drehe langsam einen Kassiazweig in der Hand .«
Die Bildreliefs waren nicht
so gut erhalten wie die scharf eingeritzte alte Schrift. Die Zeit hatte ihr
Werk verrichtet, aber in dem, was übriggeblieben war, konnte man die Kinder,
die die traurige Sängerin geboren
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