Die Insel der roten Erde Roman
verstärkte.
»Miss Divine ist neunzehn«, sagte Lucy, »und hat bisher ein beneidenswertes Leben geführt. Doch vor ein paar Wochen hat sie ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder verloren.«
»Oh. Was ist denn passiert?«
»Bei einem schweren Sturm in Hobart Town ist ein Eukalyptusbaum umgestürzt und hat ihre Kutsche unter sich begraben. Sie waren auf der Stelle tot. Ich wurde eingestellt, um Miss Amelia zu ihren Vormündern zu begleiten, die sie zum letzten Mal gesehen hat, als sie elf war. Die Leute wohnen in Kingscote auf Kangaroo Island und sollen sehr nett sein. Miss Amelia wird es bestimmt gut bei ihnen haben. Ich hoffe nur, dass sie mich behält. Auch wenn es nicht immer einfach mit ihr ist, so bin ich doch versorgt.« Lucy war viel zu gutmütig, als dass Amelias herrische Art ihren Zorn geweckt hätte. Lucys sanftes Wesen spiegelte sich auch in ihren freundlichen Zügen und ihrem herzlichen Lächeln.
Sarah bedachte Lucy mit einem vielsagenden Blick. Sie würde lieber Klosetts schrubben, als für jemanden wie Amelia Divine zu arbeiten!
»Hätte ich die Stelle bei Miss Amelia nicht«, sagte Lucy, »müsste ich in einer Fabrik schuften, und das würde mir nicht gefallen.« Verstohlen blickte sie auf Sarahs rote, rissige Hände, die von harter häuslicher Arbeit kündeten. Lucys Hände hatten in den Jahren im Waisenhaus ganz ähnlich ausgesehen.
Der schmerzliche Verlust, den Amelia erlitten hatte, stimmte Sarah keineswegs gnädiger. Sie war sicher, dass Amelia vermögend war, und ihre Vormünder würden sich um sie kümmern. Außerdem machte sie nicht den Eindruck, unter dem Verlust ihrer Eltern und des Bruders zu leiden. Und ihre Zukunft war verheißungsvoll, zumal sie mit ihrem blendenden Aussehen jeden Mann um den Finger wickeln konnte. Sarahs Abneigung rührte vor allem daher, dass Amelia im Gegensatz zu ihr so offensichtlich vom Schicksal bevorzugt worden war. Nur äußerlich gab es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Sie hatten beide langes, dunkelbraunes Haar, einen hellen Teint und braune Augen. Doch während Sarah eher ein Durchschnittsgesicht besaß, war Amelia eine Schönheit. Und ihre Herkunft hätte unterschiedlicher nicht sein können: Amelia kam aus einem reichen Elternhaus, Sarah stammte aus der englischen Arbeiterschicht. Trotzdem hatte keine Amelia Divine dieser Welt das Recht, Angehörige der Unterschicht wie Fußabtreter zu behandeln!
»Ich bin schrecklich neugierig auf die Insel«, riss Lucys Stimme Sarah aus ihren Gedanken. Das Mädchen blickte auf die dunklen Wolken, die sich über dem Festland zusammenzogen und ein Unwetter verhießen. »Einige Passagiere erzählten mir, es gäbe auf Kangaroo Island herrliche weiße Sandstrände, großen Fischreichtum und eine exotische Tierwelt. Doch Miss Amelia interessiert das alles nicht. Sie war schrecklich wütend, als sie hörte, wie wenig Menschen auf der Insel leben, denn sie liebt Partys und Einkaufsbummel über alles. Ich aber freue mich auf Kangaroo Island. Außerdem soll das Klima dort so angenehm sein wie in Van-Diemens-Land.«
Sarah zuckte mit den Schultern. Ihr war es egal, wie die Insel aussah oder welches Klima dort herrschte. Sie hatte sich ihren Aufenthaltsort nicht aussuchen können.
»Und du?«, fragte Lucy. »Was für einer Arbeit wirst du nachgehen?«
Obwohl die Frage harmlos war, hielt Sarah es für klüger, dem Mädchen nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Ich werde mich auf einer Farm um Kinder kümmern, die vor einem Jahr ihre Mutter verloren haben.«
»Oh. Was ist der armen Frau denn passiert?«
»Sie ist bei der Geburt ihres siebten Kindes gestorben. Auch das Kind hat nicht überlebt«, erwiderte Sarah. Die Farmersfrau hätte ihren Mann zurückweisen sollen, dann hätten die anderen Kinder ihre Mutter noch. Dieser Gedanke ging Sarah nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Doch sie wusste, dass die Frau keine andere Wahl gehabt hatte. Sie hatte mit dem Leben dafür bezahlt.
Lucy dachte an das Kleine, das bei der Geburt gestorben war. »Dann hast du sechs Kinder, um die du dich kümmern musst«, sagte sie. Es war eine einfältige Bemerkung, doch sie bewies, wie sehr die Erinnerung an das Waisenhaus Lucy immer noch gefangen hielt. Sie sah wieder all die kleinen Würmchen vor sich, die von ihr umsorgt worden waren, weil sie niemanden sonst auf der Welt hatten. Der Abschied von diesen Kindern hätte Lucy beinahe das Herz gebrochen. Ein Monat war seitdem vergangen, doch ihr kam es vor, als wäre es erst gestern
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