Die Insel der roten Mangroven
Leute!«, wandte Deirdre ein. »Leon hat beau-père schließlich ausdrücklich angefordert, und Sabina kommt auch von seiner Plantage. Himmel, Victor, mach ihm einfach klar, dass sie alle zu seiner Familie gehören.«
Victor lachte. »Ganz so würde er das sicher nicht sehen, aber du hast Recht, damit kann man es begründen. Sie sind alle Dufresne-Sklaven. Und Freigelassene. Das müssen wir der Familie allerdings nicht auf die Nase binden.«
Deirdre nickte. »Wir brauchen dann nur einen zweiten Wagen – überleg schon mal, welcher von deinen zufriedenen Patienten dir einen leiht.«
Die Diener der Dufresnes waren hellauf begeistert, als Victor ihnen den gemeinsamen Ausflug vorschlug. Auch sie hatten, nicht zuletzt über Leon und Sabina, von dem legendären, weihnachtlichen Gelage im Sklavenquartier von Nouveau Brissac gehört und lechzten danach, einmal dabei zu sein.
»Sie geben den Sklaven schon am Nachmittag des Heiligen Abends frei!«, begeisterte sich Amali. Sie war nun schon jahrelang auf Hispaniola, aber dass die Heiligung der katholischen Feiertage in ihrer neuen Heimat auch für Plantagensklaven galt, begeisterte sie immer noch. »Und am Weihnachtstag und am Tag danach! Und die ganze Zeit gibt es freies Essen und Bier und …«
»Am Heiligen Abend besuchen alle die Messe, das ist keine freie Zeit«, dämpfte Victor ihren Jubel. »Und was den zweiten Weihnachtstag angeht … das kommt die Pflanzer hart an. Es hat natürlich Nachwirkungen, wenn sie den Schwarzen erlauben, sich am Tag zuvor bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken. Mit hohen Leistungen ist da am Folgetag nicht zu rechnen. Feldsklaven gehen zudem nicht gerade ungefährlichen Betätigungen nach. Ich nehme an, da haben sich so viele am Tag nach dem Fest umgebracht oder schwer verletzt, dass es für die Pflanzer einfach billiger ist, ihnen noch einmal freizugeben.«
»Und du wirst mich doch wohl auch an den Feiertagen nicht im Stich lassen, Amali?«, fügte Deirdre mit leisem Tadel hinzu. »Wir Frauen müssen uns dreimal täglich umziehen, bei all den Empfängen und Bällen und Matineen … ich bin so froh, dich dieses Jahr dabeizuhaben!«
Auf Nouveau Brissac, Roche aux Brumes und den Nachbarplantagen jagte in den Feiertagen eine Festivität die andere. Nora dachte wehmütig daran, dass sie auf Jamaika stets nur einen einzigen Weihnachtsball zu überstehen hatte. Die englischen Pflanzer übertrieben es nicht derart mit den Festlichkeiten wie die Franzosen. Und überhaupt begann Nora, sich nach ihrer Plantage zu sehnen. So gern sie bei ihrer Tochter war, sie freute sich schon sehr darauf, zurück nach Cascarilla Gardens zu kommen. Die Rückreise war für Mitte Januar gebucht. Aber jetzt ging es erst noch einmal zu den Dufresnes, und Victor hatte sich erfreulicherweise nicht dagegen gewehrt, dass Doug Wagen für ihre ganze Gesellschaft gemietet hatte. Victor, Deirdre und die Fortnams saßen in einer komfortablen Kutsche, in der auchAmali noch Platz gefunden hatte, da Victor sie persönlich kutschierte. Leon fuhr einen Pritschenwagen mit dem Gepäck, der restlichen Dienerschaft und den Kindern. Alle waren blendender Laune, Leon sang den Kindern vor, und schließlich stimmten nicht nur Sabina und Amali, sondern auch Bonnie in das einfache Lied mit ein.
Nora lehnte sich zurück in ihren weichen Sitz und versuchte, sich zu entspannen. Zumindest die Fahrt war schön, sie liebte es, durch die unberührte Natur zu fahren, die es rund um Cap-Français noch gab. Später wich sie dann den endlosen Kaffee-, Tabak- und Zuckerrohrpflanzungen, aber hier waren die Wege noch von Palmen und Dschungelgewächsen mit ihren gummiartigen, fleischigen Blättern beschattet. Nora schaute nach heimischen Tieren aus, hatte jedoch wieder kein Glück. Weder das Zaguti, ein kleines Nagetier, das in den Bäumen lebte, noch der Schlitzrüssler ließen sich blicken. Beide sollte es nur auf Hispaniola geben, aber Nora hatten sie sich bislang nicht gezeigt. Ebenso wenig Krokodile oder andere Reptilien, die größer waren als Eidechsen. Nora fand das schade. Sie liebte es, ihr unbekannte Tiere zu erforschen und Pflanzen zu entdecken, die sie in ihrem eigenen Garten heimisch machen konnte. Auf Hispaniola hatte sie schon etliche Samen und Setzlinge gesammelt, es galt jetzt nur noch, sie unbeschadet übers Meer zu bringen. Wenn nur in den nächsten Tagen alles gut ging. Doug hatte klar gesagt, dass er während der Weihnachtstage Giftanschläge auf die Plantagen
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