Die Insel der roten Mangroven
festen Schritt, seine gern in den Taschen seiner Hosen verborgenen Hände und seine hängenden Schultern fast vergessen.
Der Platz vor dem pompösen Palast, in dem der Gouverneur nicht nur wohnte, sondern auch seinen Amtsgeschäften nachging, war bereits schwarz vor Menschen. Nur ein relativ schmaler Weg von der Gendarmerie zu dem in der Mitte aufgebauten Scheiterhaufen wurde freigehalten. Bonnie erkannte darin schnell einen Schwachpunkt in Jefes Plan. Die Rebellen waren von mehreren Fluchtwegen ausgegangen, sie hatten geglaubt, Macandal könnte sich nach dem Entkommen nahezu ungehindert in Richtung Hafen bewegen, wo es sicher mannigfache Verstecke für ihn gab. Tatsächlich war das Rund um den Scheiterhaufen von Menschen versperrt, Macandals Helfer würden erst einen Durchgang schaffen müssen, wenn er nicht direkt in die Reihen der Militärs rennen sollte. Nun mochte das in dem zu erwartenden Durcheinander kein großes Problem sein. Aber falls der Geist dann wirklich brannte … Es würde auf jeden Augenblick ankommen, die Flammen zu löschen, wenn er überleben wollte. Darum mussten sich jedoch andere kümmern …
Bonnie verdrängte ihre dunklen Befürchtungen und suchte nach dem Wagen mit der Kanone. Sie atmete auf, als sie ihn entdeckte. Er stand exakt da, wo es verabredet war. Und auch sonst verlief alles nach Plan. Die Männer auf dem Wagen riefen sie sofort an, als sie sich näherte – kein Wunder, Jefe saß auf dem Bock und hielt die Zügel der beiden Maultiere.
»Bobbie!«
Wie Schaulustige, die vielleicht schon ein paar Schlucke Rum oder Zuckerrohrschnaps getrunken hatten, johlten die sechs kräftigen Schwarzen bei Bonnies Anblick auf.
»Komm hier rauf, da unten du sehen nix!« Gleich zwei von ihnen streckten ihr die Arme entgegen und zogen sie hinauf.
Bonnie inspizierte unauffällig das unter Decken verborgene Falkonett. Ja, auch das war perfekt aufgestellt. Sie brauchte es nicht mehr zu bewegen, die Ausrichtung auf den Palast stimmte. Sie würde nur noch das genaue Ziel auswählen müssen. Wobei sie die Treppe ausschloss. Sie musste zuverlässig über die Köpfe all der Menschen hinwegschießen, also kam nur ein höher gelegenes Ziel infrage. Bonnie konnte lediglich hoffen, dass die Reichweite des Falkonetts tatsächlich den Angaben entsprach, die Jefe ihr gemacht hatte.
Vor dem Eingang des Regierungsgebäudes, der den besten Blick auf den Scheiterhaufen bot, war eine Tribüne aufgebaut, auf der gerade die Honoratioren der Stadt und die Vertreter der Plantagenbesitzer Platz nahmen. Bonnie stellte fest, dass sie sich auf ihren Adlerblick immer noch verlassen konnte. Sie entdeckte Victor, seine Verwandten und Monsieur Montand, dem man selbst auf diese Entfernung anmerkte, wie deplatziert er sich hier fühlte. Auch der Doktor verriet durch erkennbares Desinteresse an jeder Unterhaltung mit den anderen Dufresnes sein Unwohlsein.
»Mensch!« Einer der Schwarzen folgte Bonnies Blick auf die Tribüne. »Wenn wir da reinschießen … Wir sie können alle auslöschen mit ein Schlag!«
Bonnie schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre zu gefährlich«, behauptete sie.
Dabei war ihr der Gedanke natürlich auch schon durch den Kopf geschossen. Es wäre mühelos möglich gewesen, die Kugel in die Gesellschaft um den Gouverneur zu lenken. Doch natürlich lag es ihr fern, Victor Dufresne zu verletzen. Und sie wollte auch nicht erneut zum Mörder werden. Bobbie hatte als Kanonier der Mermaid genug Tote auf dem Gewissen. Früher hatte sie nie darüber nachgedacht, aber jetzt geisterten die Seelen der unschuldigen Seeleute mitunter durch ihre Träume.
Schließlich fixierte Bonnie einen Mauervorsprung, ein Reliefoberhalb des pompösen Eingangsportals. Es zeigte nackte Männer auf Pferden, die unglücklich die Mäuler aufrissen. Bonnie befand, dass es um dieses Kunstwerk nicht schade war. Und wenn sie die Kanone darauf ausrichtete, sollte sogar genügend Marmor absplittern und weit genug fliegen, um den Männern um den Gouverneur ein paar kleine Wunden zu reißen. Etwas Blut war sicher gut, um die Angst der Menschen anzuheizen.
Die Männer auf dem Wagen hatten Bonnies kurze Einschätzung der Lage schweigend beobachtet, was der jungen Frau ein unheimliches Gefühl gab. Auf der Mermaid war immer geredet und gescherzt worden, auch direkt vor dem Angriff, wobei sicher eine gewisse Hysterie mitspielte. Die Rebellen auf dem Wagen waren jedoch nicht die einzigen, deren Verhalten unnatürlich gedämpft wirkte.
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