Die Insel der roten Mangroven
Die Plantage liegt im Inland, wie ich vorhin schon sagte, etwa fünfzehn Meilen südöstlich von hier. Mit dem Wagen sind wir in höchstens vier Stunden da.«
»Wir könnten doch auch reiten«, schlug Deirdre vor. Zu Pferd kam man erheblich schneller voran, und sie hatte lange Fahrten mit der Kutsche schon immer langweilig gefunden.
»Und unser Gepäck?« Victor sprach geziert und tat, als zöge er ein Tuch aus der Tasche, um es an Nase und Lippen zu führen. »Als eine Dufresne musst du standesgemäß ausgestattet sein! Du willst deine Kleider nicht wirklich in den Satteltaschen verstauen wie eine … Viehtreiberin …?«
Deirdre lachte noch, als sie die Holztreppen schon wieder hinunterliefen.
KAPITEL 4
G érôme Dufresne verabschiedete sich gleich am nächsten Tag und machte sich auf den Weg zurück zur Plantage seiner Familie. Die hochherrschaftliche Kutsche, den livrierten Fahrer und seinen verschüchterten Leibsklaven Benoît nahm er mit.
Deirdre nahm das kaum zur Kenntnis, sie war zu sehr damit beschäftigt, die Reisetruhen auszupacken, die vom Hafen geliefert worden waren. Die Spedition befand sich in der Hand freier Mulatten, wie sie verwundert feststellte. Auf Saint-Domingue gab es sehr viel mehr freie Farbige als auf Jamaika, und sie konnten auf ehrliche Weise ihr Brot verdienen.
»Aber nur in untergeordneter Stellung«, schränkte Victor ein, als Deirdre mit ihm darüber sprach. »Frei sein bedeutet ja nicht gleichgestellt. Ich kann diese Leute hier in der Praxis zum Beispiel nicht behandeln, da würden meine weißen Patienten Sturm laufen. Und Hausbesuche können sich die meisten nicht leisten. Es gibt auch keine Schulen für ihre Kinder, keinen Rechtsbeistand, wenn einer ihnen Unrecht tut. Und die Gendarmerie … Diese Stadt ist nicht das Paradies für freie Schwarze, Deirdre. Im Gegenteil, was Ernährung und Kleidung angeht, sind die Sklaven oft besser dran.«
Auf die Dienerschaft der jungen Familie Dufresne schien das jedenfalls zuzutreffen. Amali, Lennie und Nafia hatten ihre Quartiere bezogen und waren sehr zufrieden. Das Haus neben den Ställen bot mehr Platz als die Sklavenhütten auf den Plantagen. Die Köchin Sabina hatte schon einen Gemüsegarten angelegt und freute sich wie ein Kind über Victors Erlaubnis, Überschüsse verkaufen zu dürfen. Jacques Dufresne vertrat hier wohl eine strengere Haltung.
»Mein Vater mag es nicht, wenn sich pacotilleurs auf der Plantage herumtreiben«, erklärte Victor. »Das sind fliegende Händler, freie Schwarze, die herumziehen und den Sklaven Kleinigkeiten verkaufen wie billigen Schmuck oder anderen Tand. Damit sie gar nicht erst in Versuchung kommen, dürfen die Schwarzen auf Nouveau Brissac kein Geld besitzen.«
»Das verstehe ich nicht.« Deirdre wunderte sich. »Andere Pflanzer gestatten das doch auch …«
Auf Jamaika gab es nichts Vergleichbares, aber da hatten die Sklaven auch gar nicht genug Zeit, um zu handeln. Die meisten Pflanzer verlangten an allen Tagen des Jahres von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Arbeitseinsatz. Nur der Weihnachtstag war frei. Amali und Lennie konnten sich dagegen schon in der ersten Woche über einen freien Tag freuen. Das katholische Saint-Domingue beging den Festtag irgendeines Heiligen, von dem weder die beiden Schwarzen noch Deirdre je gehört hatten. Es war jedoch ein offizieller Feiertag, den Herren und Bedienstete von Gesetz wegen zu heiligen hatten.
»Vater meint, pacotilleurs stifteten Unfrieden«, antwortete Victor. »Sie bringen ja nicht nur Tand unter die Leute, sondern auch Nachrichten. Den Sklaven auf Saint-Domingue ist es verboten, sich zu versammeln, sofern sie unterschiedlichen Herren gehören, das soll Aufständen vorbeugen. Also verbreiten sich Neuigkeiten und Gerüchte nur durch die pacotilleurs , die für meinen Vater nun mal Störenfriede und Aufrührer sind.« Victor lächelte, offenbar sah er das anders. »Na ja, du wirst ihn ja kennenlernen. Er sieht hinter jedem Busch einen Maroon mit geschärfter Machete, der nichts anderes im Kopf hat, als seine braven Feldsklaven zu einem Aufstand zu verführen.«
»Gibt’s denn hier überhaupt Maroons?«
Deirdre wusste, dass die Zahl der versteckt in den Bergen lebenden freien Schwarzen auf Jamaika rapide abgenommen hatte, als der Gouverneur Freibriefe erlaubt hatte. Vorher war jeder Schwarze, der sich in Ortschaften traute, Gefahr gelaufen, wieder versklavt zu werden. Offiziell gab es schließlich keine freien Farbigen. Die Leute hatten
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