Die Insel der roten Mangroven
zwangsläufig in der Illegalität leben müssen, während sie sich später, mit echten oder gefälschten Freibriefen, unter die Gesellschaft mischen konnten. Auf Saint-Domingue hatte es allerdings von jeher freie Schwarze gegeben. Warum also Maroons?
Victor lachte. »Liebes, auch auf Hispaniola laufen Sklaven weg und verstecken sich vor ihren Backras, die man hier übrigens Mèz nennt. Außerdem gibt es noch Nachkommen der Ureinwohner, die sich teilweise mit entflohenen Negern vermischt haben. Man schätzt, dass etwa dreitausend Maroons in den Bergen leben. Aber sie sind keine große Bedrohung. Die meisten leben in kleinen Gruppen, und untereinander sind sie oft verfeindet. Die Probleme, die ihr auf Jamaika hattet, dass sie Plantagen überfallen, ausplündern und niederbrennen, die haben wir hier nicht. Allenfalls stehlen sie mal Vieh. Den Pflanzern sind sie natürlich verhasst, weil sie entflohene Sklaven aufnehmen. Und die pacotilleurs gehen auch bei ihnen aus und ein, sie können also theoretisch Kontakte knüpfen.«
Deirdre war wirklich gespannt auf Nouveau Brissac und Victors Familie. Sie war bereit zu einem Besuch, gleich nachdem sie die Seekisten ausgepackt hatte – was mit Amalis Hilfe recht schnell ging. Das Stadthaus wirkte nun, da Deirdre sich mit ihren Möbeln, Bettdecken und Vorhängen eingerichtet hatte, noch heimeliger und schöner, doch die junge Frau begann sich bald zu langweilen. Sie brannte darauf, in die Gesellschaft von Cap-Français und auf Dauer natürlich in die von ganz Saint-Domingue eingeführt zu werden, aber Victor fand keine Zeit, etwas mit ihr zu unternehmen. Seine Praxis florierte, die Sprechstunden waren gut besucht, und abends machte er Hausbesuche. Deirdre sah ihn nur am späten Abend und am frühen Morgen, was zwar genügte, um mit anhaltender Begeisterung der Liebe zu frönen, sie sonst aber nicht ausfüllte. Victor vertröstete sie auf den ersten gemeinsamen Kirchgang.
»Ich werde dich mit einigen meiner Patientinnen bekannt machen, dann kannst du sie zum Tee besuchen oder was Damen so tun, um sich die Zeit zu vertreiben.«
Für Deirdre klang das wenig verlockend. Die erste Sonntagsmesse nach ihrer Ankunft auf Saint-Domingue sollten sie jedoch ohnehin auf Nouveau Brissac feiern. Gérôme hatte die Einladung vor seiner Heimkehr ausgesprochen, Jacques und Louise Dufresne hätten darauf bestanden. Deirdre freute das, Victor entlockte es nur ein Seufzen. Er hätte sich von dem Ansturm seiner Patienten nach seiner Rückkehr aus Jamaika lieber im eigenen Hause erholt und Deirdre erst mal mit Cap-Français vertraut gemacht, bevor er sich gleich auf den nächsten mehrtägigen Ausflug begab. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ab Freitagmittag für den Besuch bei seinen Eltern freizunehmen.
Dem jungen Arzt fiel es erkennbar schwer, sich von seinen Patienten zu trennen, und die ersten Meilen auf dem Weg nach Nouveau Brissac langweilte er Deirdre mit Schilderungen von besorgniserregenden Krankengeschichten. Deirdre hätte ihn gern auf andere Themen gebracht, so recht wollte ihr jedoch nichts einfallen. Die Vegetation auf Hispaniola, durch die ihr von Victor selbst gelenkter Wagen rollte, unterschied sich nicht sehr von der Jamaikas, Deirdre bemerkte, dass es mehr Palmen gab und keine Blauen Mahoes. Interessante Tiere fanden sich wohl auch kaum, als sie fragte, erzählte Victor lediglich von einem Schlitzrüssler.
»Kleine Wesen, nichts Furchteinflößendes«, sagte er. »Sie sehen ein bisschen aus wie Spitzmäuse. Aber fangen solltest du sie nicht, ihr Speichel ist giftig. Als Kind wollte ich mal einen zähmen, aber der kleine Kerl biss sofort zu – und ich konnte ein paar Tage lang die Hand nicht bewegen.«
Deirdre lag es ganz sicher fern, Schlitzrüssler zu zähmen, auch wenn sie schon gern mal einen gesehen hätte.
Schließlich verließen sie die naturbelassenen Wälder und durchquerten die ersten Tabakplantagen. Interessiert blickte Deirdre auf die bis zu sieben Fuß hohen, breitblättrigen Pflanzen. Sie hatte bislang nie welche gesehen, auf Jamaika pflanzte man Tabak allenfalls zum Eigenbedarf an, die Pflanzer lebten allein vom Zuckerrohr.
»Oh, Zuckerrohrplantagen haben wir hier auch«, erläuterte Victor. »Aber insgesamt setzt man auf Saint-Domingue mehr auf Kaffee und Tabak. Nouveau Brissac ist eine Tabak- und Kaffeeplantage wie die meisten hier im Umland von Cap-Français. Aber Gisbert, mein anderer Bruder, der die Plantage mal erben wird, hätte gern
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