Die Insel der roten Mangroven
zunächst durch belebte Straßen, dann durch ruhigere Wohngegenden, und schließlich hielt er vor einem Haus, das ein wenig abseits der Straße lag, aber so einladend wirkte, dass sicher niemand Angst hatte, den Weg zum Eingang einzuschlagen.
Das zweistöckige Haus des weitläufigen Anwesens lockte durch eine schattige Veranda, die man sicher teilweise als Wartebereich für die Patienten nutzen konnte, und im ersten Stock durch einen langen Balkon, auf dem Deirdre sich, ungestört vom Praxisbetrieb, erholen konnte. Es war, wie Victor es beschrieben hatte, weitgehend schmucklos angelegt, lediglich die Brüstungen wiesen Schnitzereien auf. Aber es wirkte anheimelnd – auch durch die hohen Palmen, die Victor beim Roden des Grundstücks hatte stehen lassen. Sie nahmen dem Haus das Unpersönliche eines Neubaus – es sah fast aus, als schmiege es sich schon von jeher in den Schatten der imponierenden Bäume. Der Stall, der etwas abseits des Wohnhauses lag, war ein stabiles Blockhaus. Dahinter gab es Wohnungen für die Schwarzen, keine Einzelhütten wie auf den Plantagen, sondern Zimmer, in einem langen Gebäude platzsparend angelegt.
»Das ist wunderschön!«, sagte Deirdre andächtig, als sie den Anblick gebührend lange auf sich hatte wirken lassen. »Und es liegt ja regelrecht im Grünen! Der Strand dürfte auch nicht weit entfernt sein!«
Victor nickte. »Nicht weit von hier ist eine Bucht – sie liegtfast so ungestört wie euer Strand auf Cascarilla Gardens. Ich dachte mir, dass dir das gefällt.«
Deirdre küsste ihn. »Wir können heimlich nachts da baden …«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Victor lachte.
»Können wir jetzt mal hineingehen?«, fragte Gérôme ungeduldig. »Hier gibt es so viele Moskitos …«
Das war übertrieben, es war schließlich erst Vormittag, und ein paar Insekten schwirrten auf den Inseln immer umher. Gérôme war jedoch ohnehin schlecht gelaunt. Auch er hatte unter der Seekrankheit gelitten und die Reise nicht genießen können. Zudem konnte er Deirdres Begeisterung für ihr neues Haus offensichtlich nicht teilen. Deirdre wunderte das nicht. Sicher gehörte er zu dem Teil der Familie, der es gern größer und repräsentativer gehabt hätte.
»Und die Neger, das faule Pack, sind auch noch nicht da …«
Gérôme schaute ärgerlich nach Benoît aus, aber zu Fuß konnten die Schwarzen den Weg noch nicht geschafft haben. Die Pferde vor der Kutsche waren fast die ganze Strecke über getrabt.
»Sabina!«, rief Gérôme laut und gebieterisch, als er die wenigen Stufen hinaufstieg, die zum Eingang des Hauses führten.
Gleich darauf öffnete sich die Tür von innen und eine rundliche schwarze Frau hastete heraus. Sie trug die auf den Inseln gängige Kleidung, einen roten Rock, eine weiße Bluse und einen bunten Turban, und sie konnte nicht schnell genug vor Gérôme Dufresne knicksen.
»Mèz Gérôme … und Mèz Victor!« Sie knickste erneut. »Ich Sie noch gar nicht erwarten! Reise gut? Alles gut?« Die Frau war so beflissen, dass sie Deirdre zunächst gar nicht bemerkte.
Victor lächelte ihr zu. »Sabina! Wie schön, dich zu sehen. Ich hatte gehofft, dass mein Vater dich wirklich zu uns schickt, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass man im großen Haus auf dich verzichten kann«, schmeichelte er und wandte sich dannan Deirdre. »Darf ich dir unsere Köchin vorstellen, Deirdre? Sabina.«
Die Frau strahlte bei Victors Worten, und der ängstliche Ausdruck, den Deirdre eben noch auf ihrem runden Gesicht zu sehen gemeint hatte, verzog sich. Er kehrte jedoch gleich zurück, als sie jetzt Victors Blick folgte und Deirdre endlich entdeckte.
»Oh, Jesus! Die Madame! Verzeihen Sie, Madame, ich Sie nicht gesehen. Ich Sie …« Die Frau versank dieses Mal in eine Art Hofknicks und fiel dabei fast um.
Deirdre musste lachen. »Ach, das macht nichts, Sabina. Die Sonne blendet ja, wenn man aus dem Haus kommt. Du bist …«
»Sie ist die Köchin«, wiederholte Gérôme spöttisch. »Nebenbei bemerkt die Einzige aus ganz Nouveau Brissac, die sich um die Arbeit hier gerissen hat. Ganz allein, ohne weitere Hilfskräfte … Na ja, nun kommen noch Amali, das Kind und der nichtsnutzige Hausdiener dazu. Eine schöne Dienerschaft. Aber wenn’s dich glücklich macht, Victor.«
»Nouveau Brissac?«, fragte Deirdre unsicher in Victors Richtung.
Sie war sich nicht sicher, ob sie alles verstanden hatte, diese Worte waren ihr auf jeden Fall fremd.
»Die Plantage unserer Familie«, bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher