Die Insel der roten Mangroven
über Bord gespült bei Sturm oder dem Seemannsgrab nach einer Schlacht überantwortet. Twinkle hatte es jedoch gemacht wie Bonnie jetzt: Er hatte sein Geld zur Seite gelegt, und als er sich dann in Barbados Hals über Kopf in eine der Hafenhuren verliebte, hatte er dem Zuhälter das Mädchen abgekauft und sich mit der überaus dankbaren jungen Frau bei Bridgetown angesiedelt. Die beiden führten einen Gemischtwarenladen, vergleichbar mit dem Máanus auf Grand Cayman, sie belieferten die Mermaid , wenn Captain Seegall vorbeisegelte und in einer verschwiegenen Bucht anlegte. Zudem half Twinkle seinem ehemaligen Captain beim Weiterverkauf der Beute aus dessen Raubzügen. Für die Piraten war der Laden ein unschätzbarer Stützpunkt an Land.
Und Bonnie war ihr Lehrmeister damit in einer weiteren Hinsicht zum Vorbild geworden. So wie Twinkle wollte sie es auch machen! Ein paar Jahre zur See fahren, und dann das Geld nehmen und sesshaft werden – am besten auch ehrbar! Bonnie träumte von einem sauberen kleinen Haus irgendwo auf einer Insel, einem Geschäft, in dem sie mit den Frauen der Handwerker und anderen Geschäftsleuten harmlosen Tratsch austauschen konnte. Und irgendwie gehörte auch immer Jefe zu ihrem Traum, den sie in ihren Fantasien niemals Caesar nannte. In ihrer Vorstellung sah sie ihn mit einem schmucken Gespann Maultiere oder gar Pferde Waren anliefern, sie hörte, wie er mit den Kunden scherzte und sonnte sich in seinem Lächeln, das in diesen Träumen ihr und nur ihr galt. Bonnie konnte diesen Fantasien stundenlang nachhängen, wenn sie auf dem Ausguckhockte und auf das endlose blaue Meer blickte. Sie tröstete sich damit jede Nacht vor dem Einschlafen, wenn die Männer um sie herum schnarchten und grunzten und die Luft in den Mannschaftsunterkünften nach den Ausdünstungen Dutzender ungewaschener Körper stank.
Doch Bonnie hätte sich nie beklagt. Es war auch nicht so, dass sie die Tage zählte, bis sie endlich ihr neues Leben beginnen konnte. Tatsächlich war ihr Dasein auf der Mermaid das beste, was sie je gehabt hatte. Niemand schlug sie, beleidigte und vergewaltigte sie. Sie hatte ihre eigene Hängematte und ein bisschen Platz unter Deck, den ihr keiner streitig machte und wo sie auch ihr Geld unterbringen konnte, ohne einen Diebstahl befürchten zu müssen. Dreimal am Tag gab es zuverlässig etwas zu essen. Die Kost war manchmal etwas eintönig – das Frühstück bestand meist aus mit Rum und Zucker zu einem Brei verkochten Schiffszwieback, und sonst konnte der Koch eigentlich nur Salmagundi, eine Art Salat aus marinierten Stücken Fisch, Schildkröte und Fleisch, kombiniert mit Gewürzen, Palmenherzen, Würzwein und Öl –, aber satt wurde Bonnie eigentlich immer. Sie vertilgte ziemliche Mengen, denn die Arbeit an Bord war schwer.
Zwischen den aufregenden Tagen, in denen Schiffe verfolgt und geentert wurden, beschäftigten sich die Männer hauptsächlich mit der Wartung und Pflege der Mermaid . Fugen wurden mit Werg abgedichtet und mit heißem Pech versiegelt, Segel genäht und repariert, Seile gespleißt. Mitunter suchte die Crew auch versteckte Buchten auf, um das Schiff an Land zu ziehen und den Holzwurm zu bekämpfen oder die sonst unter Wasser liegenden Planken von Seepocken zu befreien. Die Krebse setzten sich gern daran fest und verlangsamten die Segler.
Bonnie musste stets mit anfassen, auch wenn »der kleine Kanonier« nicht so stark war wie Jefe und die anderen. Mitunter war sie zu Tode erschöpft – und freute sich, wenn in derFolge ihre Regel ausblieb. Aber jung und gesund wie sie war, erholte sie sich meist schnell wieder. Bonnie war anerkannt und beliebt. Im Großen und Ganzen fühlte sie sich wohl an Bord. Die Piraten bildeten eine verschworene Gemeinschaft, fast wie die Familie, die das junge Mädchen nie gehabt hatte.
»Ein eigenes Schiff wär schon gut!«, ließ sich jetzt Jefe vernehmen. »Mann, ’n Segler mit ’nem schwarzen Captain! Und jeder Hafenmeister muss ›Yes, Sir‹ zu einem sagen!«
Jefes Augen blitzten bei dem Gedanken auf, und Bonnie fühlte einen kurzen Schmerz. Ob ihr Freund wirklich von einem Schiff träumte? Sie konnte es nicht leugnen – während die Raubzüge der Mermaid für sie selbst eher ein Mittel zum Zweck waren, schien Jefe das Entern, die Kämpfe, den Pulverdampf und die Gefahr in vollen Zügen zu genießen. Auch er war in der Hierarchie der Mermaid schnell aufgestiegen, wenngleich noch nicht bis in eines der Ämter, in die man von
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